Sehr geehrter Präsident der Europäischen Union
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Merkel
Sehr geehrter Herr Prof. Andrea Riccardi,
Kwod haRabanim, Geistliche aller Religionen, Schwestern und Brüder, Gemeinschaft Sant'Egidio,
sehr geehrte Damen und Herren!
Die jährliche Interreligiöse Friedenkonferenz der Gemeinschaft Sant'Egidio beflügelt mich immer wieder und bringt neue Hoffnung mit. Man kommt zum Nachdenken, schöpft neue Ideen, knüpft neue Freundschaften und vieles Fremde und Unbekannte wird klar und verständlich. Es zeigt, dass Frieden und Friedenswünsche nicht Träume und Gebete bleiben müssen, man kann sie durch persönliche Begegnungen, durch Vertrauensaufbau, durch Austausch im Gespräch verwirklichen und realisieren. Es fordert Bereitschaft, sich gegenseitig zu respektieren, Vorurteile abzubauen und die Wünsche voneinander lernen zu wollen. In den letzten zehn Jahren habe ich an mehreren die Konferenzen teilgenommen. Lieber Herr Prof. Riccardi , der Geist von Assisi soll uns alle stärken, mit G“ttes Hilfe und unserem Willen, näher an unser Ziel - an den Frieden zu kommen.
Schalom – Frieden ist im Judentum viel mehr als nur das friedliche Zusammensein von Menschen. Schalom hat mehrere Bedeutungen. Schalom ist G“ttes Name. Es ist nicht nur unser Wille, dass Frieden herrscht. Es ist der Wille G“ttes, dass unter uns Frieden sein wird. Indem wir einander mit Schalom-Frieden begrüßen, erinnern wir uns, wie wir miteinander nach seinem Willen leben sollen.
Das Wort Schalom kommt von Schalem - „vollkommen sein“. Wenn wir uns vervollkommnen wollen, müssen wir Frieden unter uns haben.
Frieden zwischen Menschen zu stiften ist seit der Weltschöpfung unsere große Herausforderung. Als G“tt Eva für Adam schuf, sagte G“tt: „Ich will ihm eine Hilfe machen, ihm Gegenpart“ (1.B.M 2,18), was nichts anderes heißt als wenn zwei Menschen einander begegnen, können sie entweder einander helfen oder gegeneinander sein.
Später, beim Turmbau zu Babel ist es gerade zum Problem geworden, dass alle Menschen so einig waren. ER sprach: „Siehe, sie sind ein Volk und haben alle eine Sprache, und dies haben sie angefangen zu tun; und nun wird ihnen nichts verwehrt werden, was sie zu tun ersinnen. Wohlan, lasst uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren, dass sie einer des anderen Sprache nicht verstehen!“ (1.B.M.11.6-7). Heißt es, dass anstatt es positiv zu sehen, dass alle Menschen eine Sprache sprechen, es hier kritisiert wird?!
Rabbi Ovadja Sforno, ein jüdischer Rabbiner und Arzt aus Rom, schreibt im 16. Jahrhundert: „Falls alle Menschen weiter eine Sprache sprechen werden, werden alle dann weiter Götzendienst betreiben und nie zu der Idee kommen, dass es auch anders sein kann. G“tt spaltet die Völker, damit sie kritisch zueinander sind und dadurch an die vollkommene Wahrheit des Glaubens kommen können.
Frieden ist wichtig, es muss aber der richtige Frieden sein. Länder und Völker in der Welt, die ihren Bürgern keine Meinungs- und Religionsfreiheit schenken, scheinen im Frieden zu leben, sind aber sehr weit von dem Friedensverständnis im Judentum entfernt. „Zwei Juden, drei Meinungen“: dieser Spruch bedeutet nichts anderes als friedliches Leben mit kritischer und fruchtbarer Denkweise, die einem erlaubt, anders zu sein als sich der andere vorstellt.
„Für alles ist eine Zeit, eine Zeit für alles Anliegen unter dem Himmel. Eine Zeit fürs Lieben und eine Zeit fürs Hassen, eine Zeit des Kriegs und eine Zeit des Friedens“. (Kohelet – Prediger 3)
Die Zeit des Friedens ist die Zeit, die wir uns wünschen.
Es könnte der Eindruck entstehen, dass mir daran liegt, Sie alle zu überzeugen, dass das Judentum die friedlichste Religion der Welt ist. Die Religion, die uns allen die richtigen Wege zum Frieden schenken kann. Die drei Abrahamitischen Religionen: Judentum, Christentum und Islam – sind durch ihre Vergangenheit und Quelle mit dem gleichen Stammvater Awraham/Abraham/Ibrahim verbunden. Welcher Vater wünscht sich, dass seine Kinder miteinander streiten? Awraham ist für uns alle ein Mensch, der friedlich mit anderen Menschen umgegangen ist: sei es, als er auf Gäste am Eingang zu seinem Zelt in der Mittagshitze wartete und unbekannte Menschen, die vorbeigingen, mit Freude empfing, oder als er mit G“tt diskutierte und gute Menschen unter den Einwohnern von Sodom und Gomorra als Vorwand zur Rettung der Städte nahm, bevor G“tt sie vernichtete.
Es ist aber das Gegenteil von dem, was hier heute von uns erwartet wird. Wir möchten unsere Zuhörer und Mitstreiter nicht nur von unserer Wahrheit überzeugen, vielmehr sind wir hierher gekommen, um selbst zuzuhören und zu spüren, dass sich Gläubige aller Religionen Frieden wünschen. Es ist uns bekannt, dass in den Heiligen Schriften aller Religionen Gebote, Verbote, Geschichten und Zitate zu jedem Thema, das unseren Alltag betrifft, zu finden sind: Frieden aber auch Krieg, Streit aber auch Liebe. So ist unser Leben und so sind auch die Heiligen Schriften. Sie vertuschen nicht die Wahrheit, sondern rufen uns auf, sich mit ihnen auseinander zu setzen. Daher zeigen uns unsere Quellen die Komplexität des Lebens und durch das Lesen und Lernen müssen wir die Werte nach dem richtigen Maß einordnen.
Eine friedliche Religion ist nicht die Religion, in deren Schriften und Gebeten der Frieden, Schalom und Salam am häufigsten erwähnt wird. Eine friedliche Religion ist eine Religion, deren Gläubige und Anhänger verinnerlicht haben, dass Frieden nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg ist: ein schwerer Weg, der von uns fordert, vieles in unserem Leben zu verändern, um an das Ziel zu kommen. Es ist wichtig, nicht nur in den friedlichen Zeiten über Frieden zu sprechen, sondern inmitten von schweren Zeiten, in Zeiten von Streit und Krieg daran zu arbeiten, zum Frieden zu kommen. Weniger Brutalität und mehr Moralität, bevor der Finger da drückt, wo man Leben zum Tod macht und Freude zur Trauer wird.
Frieden heißt nicht, Terrorismus NICHT zu bekämpfen. Ein Teil des Friedens ist das Böse von der Welt zu entfernen. Wir können nicht im Namen des demokratischen Denkens und Verständnisses den rechtsextremistischen, rassistischen, antisemitischen und islamfeindlichen Gruppen ihre Rechte lassen und ihnen somit einen weiteren Aktivismus ermöglichen. Mit allen Mitteln müssen wir sie entmachten.
Die Worte des Propheten Jesaja kommen uns wie eine Illusion in unseren Zeiten vor: „Dann gastet der Wolf beim Lamm, der Pardel lagert beim Böcklein, Kalb und junge Löwe mästen sich vereint, ein kleiner Knabe treibt sie einher“ (Jesaja 11,6).
„Ihre Wege sind Wege der Milde, und all ihre Steige sind Friede“ (Sprüche 3,17).
Um Frieden in Form der Worte des Propheten Jesaja zu erlangen, sollte man bestimmten Wegen folgen. Die Wege und die Steige der Torah sind die Wege und die Steige der Moral. Wir sollen unsere Wege nach den Werten der Moral richten. Es beginnt mit Milde und endet mit Frieden.
Wir und unsere Kinder müssen uns neu erziehen, um Frieden zu haben. Respekt, Geduld, Akzeptanz, Zuhören, Verstehen, Höflichkeit, Streitkultur sind nicht nur Worte. Es sind Tugenden, die man verarbeiten muss, um besser miteinander auszukommen.
Aharon, Mosches Bruder und der Oberste Priester des Judentums ist uns mit folgender Beschreibung in Erinnerung geblieben: Er ist der, der den Frieden liebt und dem Frieden nachjagt. Gerade wir, Geistliche und religiöse Führungspersönlichkeiten, sollen in den Mittelpunkt unserer Aufgaben stellen und uns als Ziel setzen, den Frieden zu bringen. Leider erfahren wir mehr und mehr über Terroristen, die von Geistlichen unterstützt werden. Wir haben einen großen Einfluss auf unsere Gläubigen, der muss genutzt werden, um mehr Menschen zum richtigen und positiven Verhalten mit Gläubigen anderer Religionen und der gesamten Menschheit zu bringen.
In unserer Zeit, wo überall auf der Welt Menschen von Terror und Krieg gefährdet sind, schließe ich mit dem Gebet, das wir ca. 15 Mal täglich in den Synagogen beten:
Der Frieden stiftet in Seinen Höhen, Er stifte Frieden …sprechet: Amen!