Antonio Tajani
Stellvertretender Ministerpräsident, Minister für Außenbeziehungen und internationale Zusammenarbeit, Italienbiografie
Verehrte Damen und Herren,
ich danke der Gemeinschaft Sant'Egidio und den Diözesen Osnabrück und Münster für die Organisation dieser Tage der Reflexion, die sich in einen langen Weg der Suche nach Dialog und Frieden einreihen. Schon vor 31 Jahren, am 27. Oktober 1986, versammelte Papst Johannes Paul II in Assisi den ersten Weltgebetstag für den Frieden. Heute sind wir versammelt, um diese Botschaft des Friedens in einer Zeit zu erneuern, in der Konflikte, Kriege und Terrorismus die weltweite Geopolitik verändern. Wir sprechen darüber in dem Jahr, in dem an 500 Jahre Reformation gedacht wird; eine Reform, die nicht nur einen religiösen Wandel brachte, sondern auch großen Einfluss auf das politische Gleichgewicht Europas hatte. Wir sprechen darüber an einem Ort mit großer historischer und symbolischer Bedeutung: Münster. Von hier und Osnabrück aus gelang es Europa 1648, den 30-jährigen Krieg zu beenden und ausgehend vom Westfälischen Frieden neu zu beginnen. Leider haben seither hunderte Konflikte Europa und die Welt heimgesucht und gezeigt, dass der Frieden nicht ein ein für allemal erworbenes Gut ist. Er muss Tag für Tag verteidigt und aufgebaut werden.
In Europa sind Frieden und Freiheit die obersten Ziele, die Werte, die der Europäischen Union zugrunde liegen. In Europa ist weiter Frieden, weil uns gemeinsame Werte und Prinzipien gegeben sind, die die Politik leiten, von der Demokratie bis zum Rechtsstaat, von der Gleichheit zwischen Mann und Frau bis zu Toleranz, vom Respekt der Menschenrechte bis zum Kampf gegen Diskriminierung. Der Frieden in Europa wird gestärkt durch eine tiefe Integration, die auf Dialog und Kompromiss beruht. Der Frieden in Europa wird von übernationalen Institutionen geschützt, die Tag für Tag dafür arbeiten, das Gemeinwohl zu schützen. Diese Institutionen haben mit der Zeit eine übernationale Demokratie entwickelt, die in ihrer Art einzigartig ist, personifiziert in der Institution, die ich die Ehre habe zu vertreten, das Europaparlament: die einzige Institution, die direkt von den Völkern der Union gewählt wird. Es ist nicht immer einfach, sich in einer so weiten und vielfältigen Demokratie zu einigen. Dafür ist der Brexit das eklatanteste Beispiel. Trotzdem sind wir vereint viel stärker als getrennt. Nur vereint können wir den Bürgern konkrete Antworten geben und den Frieden verteidigen.
Europa muss vorangehen und den Traum der Gründerväter weiterleben. Erlauben Sie mir, an zwei große Europäer zu erinnern, die dieses Jahr gestorben sind und denen die Europäische Union viel verdankt: Helmut Kohl und Simone Veil. Sie sind herausragende Beispiele einer Generation, die das Drama des Krieges erlebt hat und für die Überwindung der Nationalismen gekämpft hat, um ein Friedenserde an ihre Kinder weiterzugeben. Dank dem Engagement von Männern und Frauen wie Helmut Kohl und Simone Veil ist Europa unser gemeinsames Vaterland geworden, das "Vaterland unserer Vaterländer", wie es Vaclav Havel formulierte, ein weiterer Held unserer Demokratie.
Auf diese Weise ist die Europäische Union ein Leuchtturm der Freiheit für die ganze Welt geworden. Europa, der einzige Kontinent ohne Todesstrafe, muss weiter ein Modell des Friedens bleiben. Aber noch mehr als das. Denn, wie Helmut Kohl warnte, "Frieden muss deutlich mehr sein, als die Abwesenheit von Krieg". Wir müssen ins Zentrum politischer Tätigkeit die Werte stellen. Die Werte sind die Grundlage unserer Identität, die nicht nur das Ergebnis eines gemeinsamen Weges ist, sondern die Quelle unserer Kraft. Nur wenn wir unsere Identität weiterentwickeln und verteidigen, werden wir den Wandel integrieren können. Nur mit einer starken Identität werden wir den epochalen Herausforderungen wie Terrorismus, Immigration, Klimawandel und Arbeitslosigkeit begegnen können. Und nur, wenn wir diese Herausforderungen überwinden, kann Europa den Frieden innerhalb seiner Grenzen bewahren und darüber hinaus fördern.
Der Terrorismus, besonders der islamistische, hat in vielen Ländern einen andauernden Notstand ausgelöst und die soziale, politische und wirtschaftliche Stabilität auf die Probe gestellt. Die Bedrohung ist global und erfordert eine integrierte und gemeinsame Antwort. Wie sich ein weiteres Mal beim Anschlag von Barcelona gezeigt hat, reist der Terrorismus in Europa von einem Land ins andere, kommuniziert drahtlos und bildet Zellen, die überall aktiv werden können. Um einen so komplexen und beweglichen Feind zu besiegen, müssen wir vereint bleiben. Wir müssen Informationen und Sicherheitssystem teilen und an der Kooperation der Sicherheitskräfte arbeiten. Es gibt schon Europol, und das Europäische Parlament wird dazu beitragen, deren Tätigkeit auszuweiten, aber auch eine Zusammenarbeit der Richter und Geheimdienste ist notwendig. Wir brauchen eine Art europäisches FBI, um die Tätigkeiten der einzelnen Dienste zu koordinieren. Es ist nicht akzeptabel, dass die nationalen Grenzen oder Rivalität unter den Ländern den Kampf gegen den Terrorismus bremsen, mit katastrophalen Konsequenzen.
Um einen Beitrag zur Überwindung dieser Bedrohung zu leisten, hat das Europäische Parlament eine Sonderkommission ins Leben gerufen, die am 14. September ihre Arbeit aufnehmen wird. Die Kommission hat zum Ziel, konkrete Vorschläge für die Mitgliedstaaten zur Koordination der Terrorismusbekämpfung auszuarbeiten.
Auch in der Flüchtlingskrise sind die nationalen Egoismen nicht akzeptabel. Die Strategie muss alle einbeziehen. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes müssen wir die Verteilung der Flüchtlinge und die Vertragsverletzungsverfahren gegen die Staaten vorantreiben, die die Entscheidung der Europäischen Kommission, die vom Europäischen Parlament entschieden unterstützt wird, nicht anerkennen. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Wer sich der Illusion hingibt, die eigenen Grenzen allein schützen zu können, irrt sich. Die demographische Explosion in Afrika südlich der Sahara, die fortschreitende Desertifikation, die humanitären Krisen, die zahlreichen politisch instabilen Situationen machen die Immigration zu einem epochalen Phänomen, mit dem wir uns über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte werden auseinander setzen müssen. Wir brauchen eine Strategie mit kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen, um die Ströme zu steuern und Wachstum und Stabilität in Afrika zu gewährleisten. Jetzt gleich müssen wir Lösungen für die Transitländer finden. Wir müssen die Mittelmeerroute mit Hilfen und finanzieller Unterstützung für Libyen kontrollieren, wie es Europa mit der Türkei für die Balkanroute getan hat. Diesen Maßnahmen müssen breit angelegte Aktionen folgen. Europa braucht eine einheitliche Strategie in der Beziehung zu Afrika. Der Europäische Entwicklungsfond ist ein Schritt in die richtige Richtung. Der Fond mit einem Umfang von 4 Milliarden Euro kann weitere 40 Milliarden an Investitionen in Afrika mobilisieren.
Langfristig muss man allerdings ehrgeizigere Ziele haben, die finanziellen Ressourcen erhöhen und die wirtschaftliche und politische Kooperation stärken. Das Europäische Parlament hat einen politischen Dialog mit den Führern des afrikanischen Kontinentes etabliert. Vergangenen Mai hat das Parlament den Kommissionspräsidenten der Afrikanischen Union, Moussa Faki Mahamat in einer feierlichen Sitzung in Straßburg angehört. Im Juni hat das Parlament zu einer Plenarsitzung den Präsidenten der Elfenbeinküste, Alassane Outtara, eingeladen. Am 25. Juli habe ich den Präsidenten des Tschad, Idriss Deby Itno, getroffen. Am 22. November wird das Europaparlament eine "Afrikanische Woche" vor dem EU-Afrika-Gipfel organisieren, der am 29. und 30. November in Abidjan in der Elfenbeinküste abgehalten wird. Und ich nutze diese Gelegenheit, den Präsidenten des Niger, Mahamadou Issoufou, ins Europäische Parlament einzuladen.
Herr Präsident, ich möchte Sie einladen, zum Plenum des Europaparlament in Straßburg zu sprechen, wenn Ihre Zeit es erlaubt. Ihr Land ist ein unverzichtbarer Gesprächsparter in Afrika südlich der Sahara, besonders um die Migrationsflüsse zu kontrollieren und den islamistischen Terrorismus in der Sahelzone zu bekämpfen. In dieser Hinsicht möchte ich meine volle Unterstützung für die gemeinsame Kraft der G5 Sahel, die vor kurzem gegründet wurde, zusagen.
Um zum Frieden in der Welt beizutragen, reicht es nicht, den Terrorismus zu besiegen und die Herausforderung der Immigration zu bewältigen. Europa braucht, wie ich schon gesagt habe, eine starke Identität. Und der Schlüssel in diesem Prozess sind die Jugendlichen. Die Jugendlichen sind nicht nur die Zukunft, sondern auch die Gegenwart. Es sind die Jugendlichen mit ihren Träumen und Ambitionen, die Tag für Tag den europäischen Geist und Traum formen. Wir müssen den Jugendlichen die Möglichkeit geben, zum Aufbau Europas beizutragen. Wir müssen ihnen Ausbildung und Perspektiven anbieten und garantieren. In den Schulen und Universitäten übt man Integration und Dialog. Dort werden Jugendliche zu Bürgern. Dort lernen die Jugendlichen, sich auseinanderzusetzen und exklusive Wahrheiten in Frage zu stellen , die Gewalt und Konflikte auslösen. Und dann die Arbeit, das heißt die Möglichkeit, die eigene Zukunft unabhängig und autonom aufzubauen, die den Jugendlichen Perspektiven anbietet und sie den Risiken des Ausgeschlossen seins entzieht, unter denen das der Radikalisierung hervorsticht.
Immigration, Terrorismus, Arbeitslosigkeit.
Vom Sieg über diese Herausforderungen, zu denen der Kampf gegen den Klimawandel kommt, der notwendig ist, um diesem unseren Planeten eine Zukunft zu sichern, gehen die Wege zum Frieden in Europa und der Welt aus. In diesem Zusammenhang haben die Religionen eine Schlüsselrolle, denn sie repräsentieren die Werte, die die Grundlage unserer Zivilisation darstellen: Toleranz, die Wichtigkeit der Person, das Mitleid. Der Dialog zwischen Politik und den Religionen wie auch der Dialog unter den Religionen ist grundlegend und muss gestärkt werden. Nur durch diesen Dialog können wir uns gegen jede Form von Fundamentalismus und Radikalisierung wehren. Denn wer im Namen Gottes schießt, schießt gegen Gott. Wie Papst Franziskus letzten September in Assisi beim 30-jährigen Jubiläum des ersten Gebetstages, zu dem Papst Wojtyla eingeladen hatte, erinnert hat: "Es gibt keinen heiligen Krieg. Nur der Friede ist heilig."