Schwestern und Brüder, liebe Freundinnen und Freunde!
Ich freue mich, mit Euch zu teilen, was das für uns als Evangelische Kirche in Deutschland bedeutet: im Blick auf Migration Gemeinschaft sein und integrieren. Besonders gerne tue ich es in diesem Jahr, das sehr wichtig ist für uns Protestanten.
I. Reformatorische Impulse
Im Jahr 2017 feiern protestantische Christinnen und Christen 500 Jahre Reformation. Die Reformation fragte nach der Beziehung des Menschen zu Gott - und veränderte damit Kirche und Welt. Luther formulierte das neue Verständnis des christlichen Glaubens:
"Ein Christenmensch ist ein freier Herr [...] und niemand untertan."
Alle Christinnen und Christen leben also frei in der bedingungslosen Liebe Gottes. Dies bestimmt zugleich die Beziehungen der Menschen zueinander. Denn diese Freiheit ist auch Verantwortung und verpflichtet zur Nächstenliebe. In Luthers Worten:
„Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht [...] und jedermann untertan.“
Angesichts der vielen Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Not fliehen, wird die Frage nach der Nächstenliebe konkret. Unzählige Christinnen und Christen engagieren sich für das Gemeinwohl, weil die Konsequenz ihres Glaubens gelebte Solidarität ist. Gerade in der Flüchtlingshilfe wird dabei Großes und Großartiges geleistet. Wir erleben es als Geschenk, dass uns dies heute über konfessionelle Unterschiede hinweg als Christen wie als Kirchen verbindet. Mit allen uns benachbarten katholischen Bistümern gemeinsam haben wir 2017 ökumenische Aufrufe und Selbstverpflichtungen unterzeichnet, die für die kommenden Jahre eine neue Qualität ökumenischer Zusammenarbeit eröffnen. Das schließt ausdrücklich ein, Kirche zu sein gemeinsam mit Migranten und Flüchtlingen.
Das verbindet uns auch über Religionsgrenzen hinweg.
II. Kirche in der Migrationsgesellschaft
Im Jahr 2015 hatten 21% der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund, in Nordrhein-Westfalen waren es mit 24,4 % sogar ein Viertel aller hier Lebenden. Der sich weiter steigernde Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland ist nicht das Ergebnis einer kurzfristigen Flüchtlingszuwanderung, sondern Teil der Geschichte Deutschlands als Einwanderungsland seit dem Zweiten Weltkrieg.
Die Wirklichkeiten von Flucht, Vertreibung und Migration sind sehr unterschiedlich und haben komplexe Entstehungsgeschichten. Ihre Ursachen bedingen einander, sodass eindimensionale Zuordnungen und Zählungen meist ein verfälschtes Bild widergeben.
„Ob Krieg und Gewalt, Verfolgung und Diskriminierung, Armut und Perspektiv-losigkeit, Umweltzerstörung und Klimawandel oder Rohstoffhandel und Landraub – meist sind diese Fluchtursachen eng miteinander verwoben. Und fast immer hängen sie mit der zunehmenden globalen Ungleichheit zwischen reich und arm zusammen.“ (GEW/ medico international 2016: 4)
Krieg, Not und Verfolgung führen dazu, dass Menschen ihr Zuhause verlassen müssen - weltweit sind es mehr als 65 Millionen. Rund 890.000 von ihnen kamen 2015 nach Deutschland und wurden aufgenommen. Im Jahr 2016 waren es etwa 280.000. Wo es keine staatliche Autorität gibt, die die Bevölkerung schützt, suchen Menschen andernorts Zuflucht vor Gewalt und Rechtlosigkeit.
Als Kirche in einer Migrationsgesellschaft erleben wir vielschichtige Veränderungsprozesse. Uns begegnen viele neu bei uns ankommende Menschen – Christen wie Anders- und auch Nichtgläubige, die zumeist aus fremden Kulturen kommen – mit einer Vielzahl von Erwartungen.
Die Fragen, die sich für uns daraus ergeben, sind nicht in erster Linie strategischer Art: „Was sollen wir machen?“ Vielmehr zielen sie in die Mitte unserer Identität als Kirche, treiben uns an, über die Herkunft unserer Kirchenidentität nachzudenken und Gottes Ruf nachzukommen, als „Botschafter der Versöhnung“ Gottes mit der Welt und untereinander in unserer Gesellschaft zu wirken.
Als alteingesessene Kirchen Europas haben wir neu zu entdecken, dass die Bibel von den ersten bis zu den letzten Seiten, ein Buch der Erfahrungen, Erinnerungen und Hoffnungen der Wanderschaft, der Bewegung und der Migration ist. Darin ist sie ein Buch über die Not und die Hoffnung aber mehr noch ein Buch über die Würde, die Begabungen, die Glaubenskraft und den Segen von Migrantinnen und Migranten.
III. Biblische Migrationstexte als gemeinschaftsbildende Glaubens- und Gotteserfahrungen auf dem Weg
In der Fülle biblischer Migrationstexte spiegelt sich, dass die Landschaften der Bibel von jeher Schauplatz von Kämpfen, Kriegen und Interessenkonflikten der antiken Großmächte waren. Migrantenfiguren wie die des Entwurzelten Abraham, des Flüchtlings Jakob, des versklavten Joseph, der Jüdin Esther am Hof des Perserkönigs verdichten diese Realität ganzer Generation und die Migrationserinnerung eines ganzen Volkes. Sie verdichten sie zur Erfahrung, zur Hoffnung und Gewissheit, dass in genau solchen Geschichten und Realitäten des Fremdseins Gott selbst erfahrbar ist, dass er in ihnen Menschen zum (Über)Leben und Glauben befähigt und dass er selbst ein mitgehender Gott ist, der Heimat ist und schenkt.
Als Begründung und Motivation dafür den Fremden ‚zu lieben wie dich selbst‘ (Lev 19,38) statt ihn ‚zu bedrücken‘ wird mehrfach betont, dass Du [d.h. Israel] selbst Fremdling in Ägypten gewesen“ (Ex 22,20) bist. „Denn du kennst das Herz des Fremden“ (Ex 23,9). Gerade wenn man sich des Reichtums und der Gaben des eigenen Landes erfreut, ist es geboten, sich zu erinnern, dass man selbst nicht ‚schon immer da‘ war und auch jetzt nicht alleine da ist. Die Einheimischen und Sesshaften erhalten den Auftrag, sich selbst immer wieder aktiv eigener Fremdheit zu erinnern und sich gewissermaßen ‚als fremd‘ zu begreifen.
Die Gemeinschaft mit und das Unterwegssein zu Gott, macht die Glaubenden zu Migrantinnen und Migranten. Sie sind wie Paulus schreibt Himmelsbürger (Phil 1,27; 3,20) und darum gewissermaßen ‚weltfremd‘. Ihr Hoffen und Handeln, ihre Haltungen und ihr Verhalten gehen nicht auf im Hier und Jetzt. Als ‚geistliche Migranten‘ (P. Wick) blicken die Kirche und der Glaube, die die Realität von Migration und im Geschick von Migrantinnen und Migranten wahrnehmen wie in einen Spiegel, der sie auf ihre wahre Identität vor Gott hinweist. Wir sind gefragt: Worin sind wir noch fremd, worin längst sesshaft geworden? Wie können wir in dem Fremden unsere eigene Fremdheit entdecken und diese Begegnung uns verwandeln und uns bereichern lassen?
IV. Gemeinschaft in der Migrationsgesellschaft:
Gott im Fremden begegnen, Gemeinwohl und menschliches Maß neu bestimmen
Es geht darum, auf dem Hintergrund der Prozesse der wirtschaftlichen Globalisierung, der weltweiten Flüchtlingserfahrungen, der Motive für Migration und Flucht die Fragen nach dem Gemeinwohl und dem menschlichen Maß neu zu bestimmen. Auch die westliche Welt muss die Bereitschaft dafür zeigen, ihre eigenen Traditionen, Werte und Maßstäbe zu hinterfragen und neu zu bestimmen.
Insofern ist im Dialog mit den Fremden und den Erwartungen an ein gutes Leben, das die Menschen aus dem globalen Süden mitbringen, über den Zusammenhang von Lebensformen in Gesellschaft und Wirtschaft nachzudenken.
„Übermächtig ist heute der Zwang zum Erfolg. Jung und vital sollen wir sein, fit und leistungsfähig bis ins hohe Alter. Alles soll glücken: In der Schule, im Berufsleben, in Familie und Freizeit. „Höher, schneller, weiter“ heißt die Devise. Diese anstrengende Jagd nach mehr macht nicht nur das eigene Leben atemlos, sie zerstört auch die Grundlagen des Lebens auf der Erde und die Lebensmöglichkeiten kommender Generationen“ (Annette Kurschus).
Die Orientierung an Christus begründet den Sinn menschlicher Existenz auf das Leben für andere, statt nur für uns selbst. Was bedeutet das für die Kirche? Sie ist nur dann wirklich Kirche, wenn sie für andere da ist (Bonhoeffer). Das ist eine radikale Forderung, die uns in unserem Leben herausfordert in einer globalisierten Konsumgesellschaft, in der individueller Besitz und Konsum Vorrang haben vor dem Teilen für das Wohlergehen anderer. Für Bonhoeffer ist das der Weg, auf dem wir die Identität der Kirche als „Gemeinschaft der Heiligen“ erleben, welche ihr Leben im Engagement für andere findet, was in diesem Fall die Berufung ist, für den „erreichbaren Nächsten” da zu sein.
Durch die Migration sind nun die früher „Fernen“ und „Fremden“ zu den „erreichbaren Nächsten“ geworden, die bei und mit uns leben wollen und für deren Fragen und Bedürfnisse, aber auch für deren Erfahrungen und Gaben wir offen sein wollen. Unser Wunsch in Christus zu leben, für diejenigen da zu sein, die nun unsere „erreichbaren Nächsten” sind, ist gleichzeitig die Forderung, wahrhaftig Kirche zu werden. Das ist der Weg, auf dem wir in das Sein Jesu Christi eintreten, zu seinem Leib werden.
Die Berufung, als Kirche in der Migrationsgesellschaft „Botschafter an Christi statt” zu sein, lädt uns ein, die Versöhnung, von der wir leben, untereinander und in der Begegnung mit den Anderen, mit den Fremden, immer wieder neu zu bewähren. Eine solche Kirche wird zunächst durch ihr Vorbild in der Gesellschaft wirken, d.h. dadurch, wie sie selbst den „Fremden“, die als Christen zu uns kommen oder die Christen werden wollen, begegnet und wie sie sich durch diese Begegnungen verändern lässt. In derselben Weise sind wir als Botschafter der Versöhnung aufgerufen, denjenigen, die unseren Glauben nicht teilen, mit demselben Respekt und in dem Geist der Liebe Christi zu begegnen. Den Anderen, den Fremden „in Christus” wahr zu nehmen, heißt vor allem, in den Fremden immer wieder Christus selbst zu erkennen.
Denn Jesus spricht: Ich bin fremd gewesen und ihr habt mich aufgenommen.« (Mt. 25,35)
V. Konsequenzen und Konkretionen
- Gott hat alle Menschen nach seinem Bild geschaffen und ihnen so eine unantastbare Würde gegeben. Niemand muss sich diese Würde verdienen. Alle Menschen sind verschieden und doch gleich wertvoll. Herkunft, Religion, Aussehen, sexuelle Identität oder aufenthaltsrechtlicher Status ändern daran nichts. Diese Grundeinsicht des christlichen Glaubens findet in den Menschenrechten eine säkulare, rechtliche Form.
- Die Würde von Menschen ist nicht verhandelbar. Deshalb muss auch das individuelle Recht auf Asyl gewahrt bleiben. Für Schutzsuchende muss es sichere Fluchtwege geben. Die Europäische Union braucht außerdem ein Einwanderungsrecht, das in einem angemessenen Maß legale Wege nach Europa bietet. Neben Flüchtlingen bedürfen auch subsidiär Geschützte, wie z.B. Bürgerkriegsflüchtlinge, besonderen Schutzes. Christus steht an der Seite derjenigen, deren Würde verletzt oder in Frage gestellt wird.
- Deshalb unterstützen wir als EKvW seit Beginn das Programm Mediterranean Hope des Protestantischen Kirchenbundes in Italien und das von ihm gemeinsam mit Sant´Egidio initiierte und durchgeführte Programm der Humanitären Korridore von Nord-Afrika nach Europa. Deshalb setzt sich meine Kirche nach Kräften ein für einen Humanitären Korridor auch nach Deutschland in Zusammenarbeit mit der Waldenserkirche und Sant´Egidio. Gestern Morgen hat hier in diesem Saal mein Freund Moderator Eugenio Bernardini dazu wichtiges gesagt.
- Für Christinnen und Christen ist Nächstenliebe das höchste Gebot. Sie stehen daher an der Seite der besonders verletzlichen Menschen. Und sie suchen nach praktikablen Wegen der Solidarität - gemeinsam mit den politisch Verantwortlichen. Deshalb freue ich mich außerordentlich, dass Herr Morio Morcone, verantwortlich für die Migrationspolitik im italienischen Innenministerium dieses Panel bereichert. Ich habe ihn als Politiker erlebt, der sich in der Kooperation für Humanitäre Korridore von Seiten der italienischen Regierung mit aller Kraft für die Menschenwürde und Menschenrechte der besonders verletzlichen Migranten einsetzt. Wenn das Innenministerium der deutschen Bundesregierung sich davon inspirieren lassen würde, wären wir einen entscheidenden Schritt in Deutschland weiter! Als Evangelische Kirche fordern wir, dass Deutschland schutzsuchenden Menschen hilft - auch über die eigenen nationalen Grenzen und die EU-Außengrenzen hinaus. Es braucht die internationale Gemeinschaft, um menschengerechte und nachhaltige Antworten auf die globalen Herausforderungen von Migration und Flucht zu finden.
- Mit der Einigung Europas ist es gelungen, die historischen Feindschaften nach zwei Weltkriegen zu überwinden. Sie hat den beteiligten Staaten eine nie dagewesene Phase des Friedens und der Freundschaft, des Wohlstands sowie des Aufbaus demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen gebracht. Aber statt mit dieser Erfahrung einen Beitrag für den Frieden in der Welt zu leisten, droht Europa heute angesichts von erstarkendem Rechtspopulismus und Nationalismus seine Seele zu verspielen.
Für die Flüchtlingspolitik bedeutet das: Die europäische Antwort kann sich nicht darin erschöpfen, auf Abschreckung und Abschottung zu setzen. Opfer von Gewalt und Terror an Grenzen abzuwehren oder ertrinken zu lassen, verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und beschädigt die Seele Europas.
Schwestern und Brüder, liebe Freundinnen und Freunde, ich freue mich auf den Austausch mit Euch darüber, wie das praktisch zu gestalten ist:
in der Migrationsgesellschaft versöhnte Gemeinschaft sein, die Vielfalt einschließt und niemanden ausschließt.
Lasst uns als Kirchen den ökumenischen Weg konsequent weiter gehen - offen dafür, im Fremden Gott zu begegnen, der unterwegs ist zu uns, damit alle Menschen das Leben in Fülle haben.