Während seines Besuches in Schweden anlässlich des 500. Jahrestages der Reformation formulierte Papst Franziskus im Dom von Lund ein Gebet mit Worten, wie sie noch nie zuvor ein Papst gesprochen hat: „Heiliger Geist, lass uns mit Freude anerkennen, welche Gaben durch die Reformation der Kirche zuteilgeworden sind.“ In Evangelii Gaudium hatte er bereits einen ähnlichen Gedanken zum Ausdruck gebracht: „Es geht nicht darum, nur Informationen über die anderen zu erhalten, um sie besser kennenzulernen, sondern darum, das, was der Geist bei ihnen gesät hat, als ein Geschenk aufzunehmen, das auch für uns bestimmt ist.“ (246)
Mich hat diese Feier von Lund sehr berührt, weil uns Brüdern von Taizé solche Worte zu Herzen gehen. In solchen Momenten fühlen wir uns auf dem Weg bestätigt, den Frère Roger vor vielen Jahren eingeschlagen hat.
Die Vielfalt innerhalb unserer Communauté wird immer größer, sowohl was die konfessionelle Herkunft von uns Brüdern betrifft als auch die kulturellen Unterschiede; wir kommen aus Ländern aller Kontinente. Indem wir als evangelische und katholische Brüder zusammenleben und gelegentlich auch orthodoxe Mönche für einige Zeit unser Leben teilen, möchten wir die zukünftige Einheit vorwegnehmen. Wir versuchen, einen Austausch von Gaben zu leben, d.h. mit den jeweils anderen das zu teilen, was wir als eine Gabe Gottes für uns betrachten und uns selbst für die Schätze zu öffnen, die Gott den anderen anvertraut hat. Das ist es wovon der Papst spricht.
Nach dem Treffen in Lund habe ich mir die Frage gestellt, wie ich mich persönlich dem Dankgebet des Papstes anschließen könnte. Ich stamme aus einer katholischen Familie; für welche Gaben der anderen Kirchen müsste ich also Gott danken?
Ich könnte vieles nennen, wofür ich der ostkirchlichen Tradition dankbar bin, aber darum geht es hier nicht. Das Thema des heutigen Vormittags führt mich zu einer der Gaben der Kirchen der Reformation, die für meinen eigenen Glauben lebenswichtig geworden ist und die ich im Zusammenleben mit Frère Roger und den ersten Brüdern der Communauté entdeckt habe, nämlich die besondere Bedeutung der Heiligen Schrift.
Ich könnte noch weitere Gaben der Reformation nennen, die zu einem Teil meiner selbst geworden sind, aber diese ist die Wichtigste. Obwohl meine Familie bekennende Katholiken waren, wurde bei uns zu Hause nie die Bibel gelesen. Man hielt das nicht für notwendig. Mein Vater hatte lediglich ein Buch mit den Sonntagslesungen, das er stets bei sich trug, und das genügte ihm.
Ich habe die Bibel in Taizé entdeckt. Als jungem Bruder der Communauté in den 1970er-Jahren war das Studium der Schrift für mich etwas Spannendes, das auch immer mehr in den Mittelpunkt unserer pastoralen Arbeit mit den Jugendlichen treten sollte. Als ich zum ersten Mal nach Taizé kam, fanden bereits die wöchentlichen Jugendtreffen statt, aber Mitte der 1970er-Jahre gab Frère Roger den Anstoß zu einer Neuausrichtung. Er wollte, dass wir Brüder das Wort Gottes in den Mittelpunkt der Treffen stellen. Seitdem geben die Brüder den Jugendlichen, die jeweils für eine Woche bei uns sind, jeden Tag Bibeleinführungen.
Frère Roger hatte verstanden, dass man nach der schwierigen Zeit, Ende der 1960er- und zu Beginn der 1970er-Jahre, den Jugendlichen vor allem helfen musste, zu den Quellen des Glaubens zu gelangen. Dabei waren sicherlich auch seine eigene Erfahrung und seine eigene Geschichte ausschlaggebend. Durch seine protestantische Herkunft kam er ganz selbstverständlich immer wieder zu den biblischen Quellen zurück.
Was uns damals geleitet hat, trifft auch heute noch zu. Die Gesellschaft und das Verhalten der Menschen verändern sich überall auf der Welt sehr schnell. Erstaunliche Möglichkeiten tun sich auf, aber gleichzeitig wird vieles unsicher und die Zukunft bereitet vielen Menschen Sorgen. Damit der technische und wirtschaftliche Fortschritt auch mit mehr Menschlichkeit einhergeht, ist es unentbehrlich, einen tieferen Sinn des Lebens zu suchen. Angesichts der Müdigkeit oder der Verwirrung vieler Menschen stellt sich die Frage: ‚Aus welcher Quelle leben wir?‘ Oder mit anderen Worten: ‚Wie kann man diese Quelle in uns zum Sprudeln bringen?‘
Um Jugendlichen zu helfen, zu dieser Quelle vorzudringen und sich der Gegenwart Gottes zu öffnen, frage ich sie manchmal: „Machen wir uns eigentlich bewusst, welchen Schatz wir in der Bibel haben?“
Natürlich ist es nicht immer leicht, die Bibel zu lesen; sie enthält Texte, die wir nicht verstehen. Um jungen Menschen einen Zugang zu ermöglichen, schlagen wir ihnen zwei Dinge vor:
Zunächst muss man sich bewusst machen, was im Mittelpunkt der Bibel steht, nämlich die Liebe Gottes und die Liebe zum Nächsten. Der Bund Gottes mit seinem Volk beginnt mit einer „ersten Liebe“, bis dann Schwierigkeiten auftreten und die Menschen untreu werden. Doch Gott wird nicht müde zu lieben; er sucht jeden Einzelnen von uns.
Die Bibel ist die Geschichte der Treue Gottes, wie sie der Prophet Jesaja mit eindrucksvollen Worten beschreibt. Gott sagt zu jedem Menschen: „Kann denn eine Frau ihr kleines Kind vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: Ich vergesse dich nicht!“ (Jesaja 49,15)
Diese lange Geschichte der Treue Gottes kann Jugendlichen bewusst machen, dass die Dinge im Leben Zeit brauchen, um zu reifen. Wir möchten oft alles sofort! Aber die Bibel öffnet uns eine andere Perspektive: „Meine Zeit liegt in deiner Hand, Herr.“ (Psalm 31,16) In mehreren Gleichnissen spricht Jesus vom Wachsen und dem Reifen der Wirklichkeiten des Reiches Gottes.
Die bedingungslose Liebe Gottes zu entdecken, öffnet uns für die Liebe zum Nächsten. Viele biblische Texte, die auf den ersten Blick hart und unverständlich erscheinen, bekommen einen Sinn, wenn wir darin die Herausforderung zur Nächstenliebe erkennen.
Der zweite Zugang zur Bibel ist für junge Menschen Folgender: Das Evangelium sagt uns, dass Christus das Wort Gottes ist und dass wir, wenn wir die Schrift lesen, ihm selbst begegnen, seine Stimme hören und in eine persönliche Beziehung mit ihm treten.
Martin Luther wollte, dass wir in der Bibel suchen, „was Christum treibet“. Auf diese Weise unterstreicht er, dass Christus der Logos – das Wort Gottes – ist, wie wir im Prolog des Johannesevangeliums lesen. Etwa zur gleichen Zeit, unabhängig von Luther, aber aus derselben Quelle schöpfend, bemerkte der spanische Mystiker Johannes vom Kreuz: „Der Vater hat ein Wort gesprochen, und dieses Wort ist sein Sohn.“
Neben dem Lesen der Bibel im eigentlichen Sinn stellen wir in Taizé fest, wie sehr der Gesang im gemeinsamen Gebet jungen Menschen hilft, das Wort Gottes zu verinnerlichen. Durch die Wiederholgesänge können wir über einen längeren Zeitraum ein Wort der Bibel oder das Wort eines Zeugen Christi betrachten und uns von ihm durchdringen lassen. Diese Gesänge können uns den Tag über begleiten.
Im Mittelpunkt jedes gemeinsamen Gebets steht ein langer Moment der Stille, der einen Raum für die Meditation der Schrift schafft. Auf diese Weise können wir auch inmitten von vielen Menschen vor Gott allein sein. Wir können uns ihm zuwenden, und zwar nicht sosehr, um ihn um etwas zu bitten, sondern um uns seiner Gegenwart zu öffnen. In der Stille können wir einen „Geschmack an Gott“ finden. Ein Wort kann in unserem Herzen Wurzeln schlagen und wachsen.
In der Stille spricht Gott zu uns, auch wenn wir dies nicht merken. Durch den Heiligen Geist besucht er uns, um uns immer wieder zu sagen, dass er uns bedingungslos liebt. Er fordert uns auf, zu lieben und unser Leben hinzugeben, so wie er uns geliebt und sich für uns hingegeben hat.
Frère Roger sagte oft: „Wenn wir auch nur ein einziges Wort behalten, so können wir es in die Tat umsetzen.“ Dadurch verstehen wir es besser und von ihm ausgehend erschließen sich uns auch andere Worte der Schrift. Es mag sein, dass wir kaum etwas vom Evangelium verstehen. Aber vielleicht gibt es ein Wort, das in unserem Leben bereits Wirklichkeit geworden ist.
Auch wenn ich hier den Beitrag der Reformation betone, die die Bedeutung der Schrift so herausgestellt hat, so wird man natürlich feststellen, dass heute auch die anderen Kirchen nach den Quellen in der Bibel suchen.
In diesem Zusammenhang denke ich oft an die Bischofssynode im Jahr 2008 in Rom, an der ich teilnehmen konnte. Das Thema war Das Wort Gottes und sein Platz in unserem Leben. Bei dieser Synode wurde das Anliegen von vielen deutlich, noch stärker auf die Bedeutung der Bibel hinzuweisen. Ein Kardinal dankte sogar den anderen Konfessionen, dass sie die Bibel in den Mittelpunkt stellen, und ein Bischof sagte: „Die Katholische Kirche war gegen das reformatorische Prinzip der Sola Scriptura angegangen und hatte dabei die Bedeutung der Bibel heruntergespielt. Davon befreien wir uns jetzt.“
Während dieser Synode haben wir Zeugnisse von Menschen aus der ganzen Welt gehört. Einige dieser Berichte waren wie kostbare Perlen. So erzählte ein Bischof aus Lettland, dass in seinem Land während des sowjetischen Regimes Priester und einfache Gläubige starben, weil sie das Wort Gottes verkündeten. Ein Priester namens Victor war eines Tages verhaftet worden, nur weil er eine Bibel besaß. Die Agenten des Regimes warfen die Bibel auf den Boden und befahlen dem Priester, darauf zu treten. Dieser kniete sich stattdessen hin und küsste das Buch. Dafür wurde er zu zehn Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt.
Wenn man dieses Zeugnis hört, versteht man, wie sehr viele Menschen die Bibel geliebt haben und wie sehr sie das Leben zahlreicher Menschen in vielen Ländern verändert hat.
Zum Schluss möchte ich noch gerne anhand von drei Beispielen erläutern, wie sehr es der Communauté von Taizé immer darum gegangen war, das Wort Gottes weiterzugeben.
Zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils hatte Frère Roger eine ökumenische Spendenaktion ins Leben gerufen, um landwirtschaftliche Genossenschaften in Lateinamerika zu unterstützen, die von Bischöfen auf diesem Kontinent ins Leben gerufen wurden. Der Vorsitzende der lateinamerikanischen Bischofskonferenz hatte ihm gesagt, wie wichtig eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der Ärmsten sei, aber ebenso wichtig sei ein Beitrag zur Verbesserung ihrer geistlichen Situation. Daher rührte die Idee, die Spendenaktion von Taizé zu erweitern und eine ökumenische Übersetzung des Neuen Testaments auf Spanisch zu erstellen und in einer Million Exemplaren über die Diözesen auf dem ganzen Kontinent zu verteilen. Kurz nach dem Konzil hat in ähnlicher Weise unsere Communauté eine halbe Millionen Neuer Testamente auf Portugiesisch nach Brasilien geschickt. Jeder, der eines dieser Neuen Testamente erhielt, sollte es zusammen mit zehn anderen Menschen lesen.
Viel später, anlässlich der Jahrtausendfeier der Taufe der Rus im Jahr 1988, erfuhr Frère Roger von den Bischöfen der Orthodoxen Kirche, dass es viel zu wenige Bibeln im Land gab und dass mindestens zwanzig Millionen Bibeln benötigt würden. Frère Roger regte daraufhin eine neue Spendenaktion an, um eine Million Neue Testamente auf Russisch drucken zu lassen und sie der Orthodoxen Kirche in Russland zu schicken, wo seinerzeit noch ein kommunistisches Regime an der Macht war.
Vor einigen Jahren ergab sich eine ähnliche Station in China. Durch die gleiche „Operation Hoffnung“ genannte Spendenaktion konnten wir 2009 in Nanjing eine Million Bibeln drucken lassen, damit sie in den Diözesen im ganzen Land verteilt werden konnten.
Zu Beginn habe ich das Dankgebet von Papst Franziskus in Lund für die Gaben der Reformation erwähnt. Gerne möchte ich mit einer Frage enden, die ich im Mai dieses Jahres in Wittenberg gestellt habe: „Verlangt das Gebet des Papstes in Lund nicht nach einer Antwort? Ist die Offenheit des Papstes für die Gaben der Reformation nicht eine Einladung, im Gegenzug die Offenheit der evangelischen Christen für die Gaben der Katholischen Kirche zum Ausdruck zu bringen? Könnten die evangelischen Christen Gott nicht besonders für die Fähigkeit der Katholischen Kirche danken, die Universalität der Kirche sichtbar zu machen?