Der Titel unseres Panels ist wahrlich anspruchsvoll. Es geht um die Frage ob und wenn ja wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 in unserem Jahrhundert um weitere Rechte erweitert werden soll. Eine Erklärung die trotz ihres universellen Anspruchs in vielen Regionen und Staaten dieser Welt allenfalls eingeschränkt umgesetzt wird.
Und wie wäre das neue Recht zu verstehen, was bedeutet überhaupt Gesundheit? Friedrich Nietzsche wird die folgende Definition zugeschrieben: „Gesundheit ist dasjenige Maß an Krank-heit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.“ Gesundheit ist demnach eine erträgliche, die jeweilige Beschäftigung nicht zu sehr störende, Krankheit.
Demgegenüber sagt die Weltgesundheitsorganisation: „Gesundheit ist ein Zustand des vollständi-gen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ Es geht um Wohlergehen und zwar nicht nur körperliches, sondern auch menta-les und soziales. In der Diskussion der letzten 30 Jahre hat diese Definition, nicht zuletzt bei Ge-sundheits- und Sozialwissenschaftlern, breiten Anklang gefunden. Diese Definition hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Konzepte der strukturellen Prävention entwickelt und umgesetzt werden konnten. Konzepte bei denen sowohl der Einzelne wie auch die allgemeinen Lebensbedingungen und die sozialen Beziehungen berücksichtigt werden. Dies sagt aber noch nichts über eine umfas-sende Umsetzung dieses Zieles und die Zuständigkeiten hierfür.
Wie weit die Realität von diesem Ziel entfernt ist, möchte ich an einem zentralen Gesundheitsthe-ma skizzieren: der durchschnittlichen Lebenserwartung. Als Vergleichsregionen habe ich die Mit-gliedsstaaten der Europäischen Union und die Staaten Subsahara-Afrikas gewählt.
Die durchschnittliche Lebenserwartung in der Europäischen Union liegt bei über 80 Jahren. Dem-gegenüber werden die Menschen in den afrikanischen Staaten südlich der Sahara im Durchschnitt keine 60 Jahre alt, nämlich 58. Ein Mensch, der in Subsahara-Afrika zur Welt kommt, wird im Durchschnitt über 20 Jahre weniger leben als jemand in der Europäischen Union. Das Recht auf Leben zählt übrigens schon jetzt nach Artikel 3 zu den anerkannten und unveräußerlichen Men-schenrechten. Dort heißt es: „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“
Die Region der Geburt entscheidet also nicht nur über Bildungs-, Berufs- und Einkommenschan-cen, sie entscheidet auch über die Dauer des Lebens.
Seit mittlerweile 30 Jahren arbeite ich als Geschäftsführender Vorstand der Deutschen AIDS-Stiftung im Themenfeld HIV und AIDS. Einem Themenfeld, in dem wir viel über Chancen und Her-ausforderungen dieses Panel-Themas „Health, a Human Right in the 21th Century“ lernen können.
Vielleicht weil bei HIV und AIDS die Gesundheitssysteme in allen Regionen und Staaten ange-sichts der „neuen Krankheit“ gleich unvorbereitet waren. HIV und AIDS wurden für HIV-infizierte und an AIDS erkrankte Menschen weltweit in einem schrecklichen Sinne Gleichmacher in Leid und Tod. Aber die Reaktionen von einzelnen Menschen und ganzen Gesellschaften und Staaten waren von Beginn an durchaus unterschiedlich. Nach der Entwicklung der Kombinationstherapien und ihrem sofortigen Einsatz in vielen reichen Staaten wurden Chancen und Lebensperspektiven für Menschen mit HIV und AIDS durch die Region bestimmt, in der sie lebten. Und dann haben sich bei diesem Thema viele Einzelne, viele Institutionen und Staaten, zusammengetan, um bei dieser Krankheit – nach meinem Eindruck in weit stärkerem Maße als bei anderen – weltweit Hilfe und Verbesserung zu ermöglichen.
Als Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts die ersten Berichte über eine neue Krankheit die Runde machten, lösten sie breites Erschrecken, ja Panik aus. Die westliche, industrialisierte Welt wurde erstmals seit langem wieder mit einer nichtheilbaren Infektionskrankheit konfrontiert, bei der keine Behandlungs- und noch weniger Heilungsmöglichkeiten absehbar waren. Zugleich verbanden sich mit den in den Industriestaaten zunächst am stärksten betroffenen Gruppen, den Männern, die Sex mit Männern haben, und den intravenös Drogen gebrauchenden Menschen weitere Ängste und Phantasien. Viele Menschen waren in höchstem Maße verunsichert.
Der französische Philosoph Jean Paul Aron schrieb 1987: „Durch AIDS hat die Verknüpfung von Krankheit und Schmach eine neue und schreckliche Dimension erlangt. AIDS führt die Verdam-mung wieder ein.“ HIV-positive und an AIDS erkrankte Menschen hatten und haben nicht nur ge-gen die Angst vor Krankheit und Tod zu kämpfen, sondern auch gegen soziale Ausgrenzung und Stigmatisierung. Als Thema, das mit Drogen, Homosexualität, überhaupt Sexualität und Tod ver-bunden wird, hat AIDS neben der gesundheitlichen eine soziale und damit politische Dimension. Das Phänomen der Verknüpfung von Krankheit und Schmach sahen und sehen wir aber auch in Regionen und Staaten, in denen ungeschützter Sexualverkehr zwischen heterosexuellen Men-schen der Hauptverbreitungsweg des Virus ist. Diskriminierung und Stigmatisierung von Men-schen mit HIV und AIDS sowie bei den Betroffenen und/oder Bedrohten die Angst davor sind ein weltweites Problem. Gleichzeitig verhindern Ängste, Schuldzuweisungen und Vorurteile gegen-über Betroffenen und deren Ausgrenzung eine erfolgreiche AIDS-Bekämpfung.
Die Auseinandersetzungen zum Thema spaltete Gesellschaft und Politik auch bei uns in Deutsch-land. Es war zunächst eine sehr kleine Gruppe, die für Information und Prävention plädierte, um die Infektion in Schach zu halten. Die große Mehrheit war der Ansicht, die Infizierten müssten se-pariert und ausgegrenzt werden. Die damalige deutsche Gesundheitsministerin, Professor Rita Süssmuth, beschrieb es so: „Wir brauchten Beratung von Forschern, Ärzten, Menschen der Kultur, Praktikern wie Streetworkern und Pfarrern – allen, die mit von AIDS betroffenen Menschen direk-ten Umgang hatten. Und wir brauchten die Erfahrungen der Betroffenen selbst, mit ihrer Kenntnis der Lebenswelten und geeigneter Schutzmaßnahmen. Hieraus entwickelten wir die Prämisse: Wir bekämpfen die Krankheit und nicht die Kranken.“
Gesundheitsministerin Süssmuth erkannte an, dass es sich nicht um ein nur medizinisch lösbares Problem handelte – und dies nicht nur, weil die Medizin damals noch nichts zu bieten hatte. Sie nannte als maßgebliche Helfer nicht nur Wissenschaftler, Ärzte und Sozialarbeiter. Sie nannte auch Künstler, Pfarrer und vor allem die Betroffenen selbst, auch und gerade wegen ihrer spezifi-schen Kompetenz. Diese Aufzählung zeigt auch, wie sehr es auf einzelne Menschen ankommt, die sich engagieren und damit den Lauf der Dinge verändern können.
Zum Glück, und ich muss hinzufügen, eher überraschend, setzte sich in Deutschland nach hefti-gen Auseinandersetzungen die Lernstrategie durch, die auf Aufklärung und nicht auf Ausgrenzung setzte. Die erfolgreiche deutsche AIDS-Politik wäre ohne politische Entscheidungen auf Bundes- und Länderebene nicht möglich gewesen. Sie erforderte aber auch die gute Zusammenarbeit von staatlichen Einrichtungen und Organisationen der Selbsthilfebewegung – zum Beispiel den AIDS-Hilfen – und der Zivilgesellschaft – zum Beispiel der Deutschen AIDS-Stiftung.
Die Zusammenarbeit von Staat, Selbsthilfe und Zivilgesellschaft auf Augenhöhe gelang bei die-sem Thema erstaunlich gut. Als Kampagnenziele wurden formuliert:
- Informiert sein
- Sich und andere schützen
- Solidarisch sein.
So wurde bereits in der zweiten Hälfte der 80er Jahre offen über Ansteckungswege von HIV, aber auch über Schutzmöglichkeiten, auch über den Schutz durch Kondome, gesprochen und infor-miert. Hinzu kamen die Aufforderung zum Handeln und der Appell, Menschen die infiziert und er-krankt waren, nicht allein zu lassen. Diese auf Offenheit angelegte Kampagne führte rasch zu er-kennbaren Rückgängen bei den Neuinfektionszahlen und damit zu einer weit niedrigeren Gesamt-infektionsrate als Mitte der 80er Jahre auch für unser Land befürchtet worden war.
Mitten in die politische Auseinandersetzung hinein wurde 1987 die Deutsche AIDS-Stiftung als private Initiative gegründet. Sie ist heute das größte monothematisch zu HIV und AIDS arbeitende Hilfswerk in Deutschland.
Die Deutsche AIDS-Stiftung:
- leistet direkte finanzielle Hilfen für Menschen mit HIV und AIDS in Not,
- unterstützt Projekte von und für Menschen mit HIV und AIDS,
- sie streitet gegen Diskriminierung und Stigmatisierung, und sie
- fördert seit 15 Jahren beispielhafte Projekte in einigen Ländern des südlichen Afrikas, zur-zeit in Mosambik, Kenia und der Republik Südafrika.
Deutschland hat mit 0,1 Prozent eine der niedrigsten Prävalenzraten Europas. Fast alle HIV-positiven haben Zugang zu antiretroviralen Therapien – allerdings mit der wichtigen Ausnahme derjenigen, die ohne Aufenthaltsstatus in unserem Lande leben. Fälle von Diskriminierung und Stigmatisierung sind selten, vor allem gehen sie nicht vom Staat aus. Aber auch in Deutschland ist AIDS nicht besiegt. Viele Erkrankte brauchen Hilfe die über die staatlichen Transferleistungen hi-nausgeht, zum Beispiel weil sie neben der HIV-Infektion mit anderen gesundheitlichen oder sozia-len Problemen zu kämpfen haben. Auch in Deutschland sterben weiterhin Menschen an AIDS.
Die deutschen Probleme mit HIV und AIDS sind aber weit geringer, als die in vielen anderen Tei-len der Welt. Darum fühlten und fühlen wir uns verpflichtet, unsere Erfahrungen zu teilen und an-deren – im Rahmen unserer bescheidenen Möglichkeiten – zu helfen. Die Deutsche AIDS-Stiftung wird in diesem Jahr ca. 900.000 Euro zur Unterstützung von Projekten in Afrika aufwenden. Dies ist wenig, wenn sie an multilaterale Organisationen wie den Global Fund to fight AIDS, Tubercolo-sis and Malaria denken. Aber es ist fast 20 Prozent der Summe, die die Volksrepublik China in diesem Jahr an den Global Fund überweist und ein Drittel der Summe, die Katar für diesen Zweck aufwendet. Die Arbeit der Stiftung wird übrigens fast ausschließlich privat finanziert, durch Spen-den, durch die Einnahmen von Benefizveranstaltungen und durch vielgestaltiges ehrenamtliches Engagement. Die Zuwendungen aus öffentlichen Haushalten liegen bei einem Prozent der jährli-chen Einnahmen. Auch dies zeigt: engagierte Menschen machen den Unterschied.
Dass die Deutsche AIDS-Stiftung fast die Hälfte ihrer direkten Hilfen in Subsahara-Afrika leistet, führt zu „Health, a Human Right in the 21th Century“ zurück. Denn schon in der 90er Jahren des letzten Jahrhunderts sahen wir, dass in unserem ersten wichtigen Arbeitsbereich, materielle Hilfe zugunsten einzelner Menschen mit HIV und AIDS in Not, mehr Menschen mit Migrationshin-tergrund unsere Hilfe suchten, als aufgrund der epidemiologischen Zahlen zu erwarten gewesen wäre. Ein deutlicher Hinweis: In einer globalisierten Welt machen Infektionskrankheiten nicht an Grenzen halt.
Zudem wurde nach der Entwicklung der Kombinationstherapien und ihrem raschen Einsatz bei uns schmerzlich deutlich, dass sich in den reichen Staaten Chancen und Lebensperspektiven für Menschen mit HIV und AIDS zum Besseren änderten, in den armen aber nicht. Dies sahen auch viele Menschen mit HIV und AIDS so, die sich zuvor als eine zum baldigen Tod verurteilte Schick-salsgemeinschaft verstanden hatten. Betroffene und Organisationen, die den Betroffenen nahe stehen, engagierten sich auch über ihre Region hinaus. Kann diese Erfahrung helfen, auch bei anderen Gesundheitsthemen, wie der Müttersterblichkeit oder dem großen Thema der Lebenser-wartung, mehr internationale Solidarität zu erreichen?
Aber zurück zu unserer Förderpraxis. Mit nahezu zwei Drittel der 900.000 Euro, mit denen die Deutsche AIDS-Stiftung in Afrika hilft, unterstützen wir das DREAM-Programm in Mosambik und in Kenia. Es sind vor allem zwei Gründe, die aus unserer Sicht für DREAM sprechen.
Den einen Grund, die hohe medizinische Qualität des Programmes kann ich aber getrost über-springen. Hier hat Dr. Palombi bereits (oder: wird Dr. Palombi) weit kompetenter gesprochen (sprechen), als ich dies könnte. Daher will ich bei meinen Eindrücken bleiben.
Das erste DREAM-Zentrum, das ich besuchte, liegt in Tansania. Mein erster Eindruck war der Kontrast zwischen dem einfachen Gebäude, einer besseren Hütte, und der sehr guten medizin-technischen Ausstattung für Diagnostik, Behandlung und Dokumentation. Mein zweiter Eindruck galt der Achtsamkeit, der Freundlichkeit und der Geduld der Mitarbeiter im Umgang mit Patientin-nen und Patienten.
Neben hervorragend ausgebildeten Ärztinnen, Pharmazeuten und Krankenschwestern kommt den sogenannten Aktivistas eine zentrale Rolle in der Betreuung der Patient(inn)en zu. Sie sind mehr-heitlich HIV-infizierte Frauen, die im Programm Kinder zur Welt gebracht haben und weiter thera-piert werden. Als glaubwürdige Botschafterinnen für Prävention und Therapie stellen Sie eine ho-he Therapietreue der Patienten durch laufende Beratung und durch Hausbesuche sicher. So ver-zögert sich die Bildung von Resistenzen mit hoher Wahrscheinlichkeit für lange Zeit. Und die Akti-vistas unterstützen Patientinnen beim Umgang mit Ausgrenzung und Stigmatisierung in der Fami-lie und der Nachbarschaft.
In den Aktivistas sehe ich darüber hinaus eine exzellente Qualifizierungsreserve, um engagierte und gut vorinformierte Menschen für weitere Aufgaben zu schulen. Sie könnten zur Lösung des Hauptproblems vieler afrikanischer Gesundheitssysteme beitragen, dem Mangel an qualifizierten Fachkräften und der unzureichenden Berücksichtigung von Frauen. Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass bei DREAM die Mehrzahl der Leitungsfunktionen von Frauen, und zwar aus-schließlich afrikanischen Frauen, besetzt ist.
Das DREAM-Programm leistet für zehntausende Patientinnen und Patienten in elf afrikanischen Staaten einen entscheidenden Beitrag bei der praktischen Förderung ihrer Gesundheit und damit bei der Einlösung des noch nicht existierenden Menschenrechts auf Gesundheit und des existie-renden Menschenrechts auf Leben. Verwirklicht werden diese Rechte durch die nachhaltige und verlässliche Kooperation vieler: der Gemeinschaft Sant’Egidio als Trägerin von DREAM, der Deut-schen AIDS-Stiftung als einem Geldgeber, der Regierung Mosambiks, des Global Fund und vor allem der engagierten Menschen, die auf allen Ebenen des DREAM-Programms arbeiten.
Aus meiner Perspektive, die man vielleicht am besten als pragmatisch zivilgesellschaftlich be-zeichnen kann, scheint mir dieser praktische und reale Zugang zu Information, Prävention und Therapie zunächst einmal wichtiger als ein abstraktes Recht, dass nicht eingelöst wird. Anderer-seits ist mir natürlich bewusst, dass das Vorhandensein eines abstrakten Rechtsanspruchs Kräfte mobilisieren kann, um aus Ansprüchen Realität zu entwickeln. Beides setzt aber Menschen vor-aus, die sich auf unterschiedlichen Ebenen engagieren. Und dabei reale Ergebnisse vorweisen zu können, wie es das DREAM-Programm kann, scheint mir der glaubwürdigste Ausgangspunkt und die beste Basis für weitergehende Forderungen zu sein.
In diesem Sinne können wir gemeinsam für „Health, a Human Right in the 21th Century“ eintreten!