Hans Lindenberger
Direktor des Caritasverbands der Erzdiözese München und Freising, Deutschlandbiografie
Sehr geehrte Damen und Herren,
Jahrzentelang war die deutsche Politik von der Vorstellung bestimmt, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Doch unabhängig von der Frage der Bewertung fand Einwanderung statt: So wanderten seit Mitte des letzten Jahrhunderts Arbeitsmigranten/innen aus dem Mittelmeerraum und später deren Angehörige zu. In den 1980er und 1990er Jahren kamen vor allem Menschen, die Schutz suchten, etwa vor dem Militärputsch in der Türkei oder den Kriegen in Afghanistan oder im auseinanderfallenden Jugoslawien. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks kamen verstärkt deutschstämmige Aussiedler und ihre Angehörigen. Derzeit erleben wir eine Wanderbewegung aus Osteuropa und Flüchtlinge aus Afrika.
Unser Thema ist nicht das Drama der Flüchtlinge, vor allem derer, die im Mittelmeer sterben. Sondern: wie kann im Einwanderungsland Deutschland das Zusammenleben gelingen? Wie kann Integration gelingen? Das ist eine Schicksalsfrage unserer Gesellschaft; eine Herausforderung, die unsere Gegenwart und Zukunft bestimmt.
Zum Verständnis von Integration:
Migration und Integration sind ureigene Themen der Kirche und ihrer Caritas. Die Solidarität mit Fremden und die Begegnung mit anderen Kulturen sind Kernbestandteile der christlichen Identität. Das kirchliche Engagement wurzelt insbesondere in der Überzeugung, dass die Menschenwürde unantastbar ist.
Die Kath. Kirche in Deutschland und ihre Caritas meinen mit Integration wechselseitige und vielschichtige Prozesse, die sich in der Gesellschaft und zwischen ihren einzelnen Angehörigen abspielen und sie verändern. Bei der Integration geht es nicht darum, Menschen in etwas Bestehendes und Statisches einzugliedern oder sie daran anzugleichen. Es geht vielmehr darum, Teilhabechancen zu gewährleisten und die Gesellschaft gemeinsam zu gestalten.
Die Werte unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung bilden den Rahmen für das Zusammenleben. Eine unverzichtbare Grundlage sind Toleranz und Achtung. Ziel ist, allen Einwohnern – mit und ohne Migrationshintergrund – eine umfassende gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Eine Teilhabe im wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, rechtlichen und politischen Leben.
Deutschland – ein Einwanderungsland. München – eine Einwanderungsstadt. Dazu einige Zahlen aus München:
München hatte Ende 2009 1.367.314 Einwohner, wovon 315.924 keinen deutschen Pass besaßen. Das sind 23,1%. Der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund wird auf 36% geschätzt. Als Menschen mit Migrationshintergrund gelten alle seit 1950 eingewanderten Personen und deren Nachkommen.
Wo kommen die meisten Menschen her? 41.000 Personen kommen aus der Türkei. Jeweils gut 20.000 Personen kommen aus Kroatien, Österreich, Italien und Griechenland. Deutlich zugenommen haben Staatsangehörige aus dem Irak, aus Afghanistan und China. Neuerdings auch aus Somalia und anderen afrikanischen Staaten.
München ist damit eine der Städte mit dem höchsten Migrantenanteil in Deutschland. Der Anteil ist etwa doppelt so hoch wie in Berlin.
Als Menschen mit Migrationshintergrund gelten übrigens alle seit 1950 eingewanderten Personen und deren Nachkommen. Migration ist zum Normalfall geworden. Eingewanderte Menschen prägen das Bild und Leben dieser Stadt. Und gerade in München kann die Integration, das gelingende Zusammenleben, als eine Erfolgsgeschichte gesehen werden. Es gibt allerdings auch Probleme, die dringend verbessert werden müssen. Denn das sogenannte Armutsrisiko liegt bei nichtdeutschen Personen etwa doppelt so hoch wie bei Deutschen.
Wo und wie müssen wir als Gesellschaft und Kirche mit beitragen, dass wir die Chancen zur Teilhabe fördern und gewährleisten? Drei Aufgabenfelder will ich betonen:
1. Teilhabe an Bildung
Lassen wir einige Zahlen sprechen:
Im Schuljahr 2007/2008 besuchten in Bayern rund 60% der Schüler mit Migrationshintergrund eine Hauptschule – ohne Migrationshintergrund waren es 28%.
An Gymnasien waren 2006/07 Migranten-Kinder mit 10,6% vertreten, an Realschulen mit 19,4% (Landesamt für Statistik). Dabei haben über 35% aller Kinder, die bei uns aufwachsen, eine Zuwanderungsgeschichte.
Zur Förderung von Schülern mit Migrationshintergrund gibt es endlich wirksame Programme, beginnend schon im vorschulischen Alter, um die Erfolgsschancen zu verbessern. Und es gibt auch Erfolge: Der Anteil der „Migranten“ ohne Schulabschluss wurde weniger: Er ging von 16,5% in 2004 auf 12,7% in 2007 zurück.
Aufgrund der demographischen Entwicklung muss unsere Gesellschaft besonders auf die Kinder von Migranten/innen setzen und sie mit aller Kraft fördern. Denn in Bayern stammen inzwischen 35,2% der Kinder unter drei Jahren aus Zuwandererfamilien (2008), Tendenz steigend. Diese Kinder werden als Jugendliche und Erwachsene unser Zusammenleben entscheidend bestimmen.
Für die Bildungsgerechtigkeit ist die Sprachkompetenz entscheidend. „Die Sprache ist der Schlüssel zum Bildungserfolg“ (Kultusminister Spänle). Hier engagiert sich auch die Caritas mit vielfältigen Maßnahmen und Projekten: Sprachkurse für kleine Kinder, für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, niederschwellige Deutschkurse für Erwachsene; Hausaufgabenbetreuung ... Wir setzen uns ein für „Bildung von Anfang an“, ob nun in Krippe und Kindergarten oder in Unterkünften für Flüchtlinge, wo wir gezielt Sprachkurse anbieten, auch wenn der Aufenthaltsstatus noch ungeklärt ist.
Wichtig zu wissen ist, dass seit dem Jahr 2005 im Prinzip alle Migranten an einem Sprach- und Integrationskurs teilnehmen müssen als Voraussetzung für den Aufenthaltsstatus..
Wie aus einer anderen Welt klingt da ein Satz von 1989, der in einer Referentenvorlage des Innenministeriums stand: „Wenn ein Gastarbeiter heimlich Deutsch lernt, dann abschieben!“ Das ist 20 Jahre her. Für heute gilt jedoch mehr denn je: Eine bessere Bildung ist der Schlüssel zu einem besseren Zusammenleben.
2. Teilhabe an Ausbildung und Arbeit
Eine zweite Aufgabe und Basis für das Zusammenleben ist der Zugang zur Arbeitswelt. Der Lebensunterhalt muss gesichert werden können. Unsere Migranten sollen und wollen nicht alimentiert werden.
Was sagt die Statistik?
Der Ausländeranteil an den Auszubildenden lag 1994 bei 9,8%. 2005 bei 4,4%. Dies zeigt dramatisch, dass die Ausbildungsquote in Deutschland sinkt. Immer weniger Migranten-Kinder, vor allem der zweiten Generation, schaffen eine Ausbildung. Hier vererbt sich nicht mangelnde Intelligenz. Es ist vielmehr Folge einer mangelhaften schulischen Förderung. Die Spirale nach unten dreht sich, eine Desintegration nimmt ihren Lauf.
Die Arbeitslosenquote in Bayern ist bei Migranten etwa doppelt so hoch als bei den Deutschen. Kein Wunder, wenn 17% der Migranten ohne Schulabschluss sind. Die Ursachen liegen aber auch in einem strukturellen Wandel des Arbeitsmarktes: Einfache produktive Tätigkeiten fallen eher weg. Die Arbeitswelt ist komplizierter, anspruchsvoller geworden. Hinzu kommt der andersartige kulturelle Hintergrund. Migranten müssen sich doppelt anstrengen, um auf die Beine zu kommen.
Was tut die Caritas? Nur einige Stichworte: berufliche Basis-Qualifizierung für junge Flüchtlinge (Schneiderei, Maler, PC-Kurs, Schweißen …) Hilfe bei Bewerbungsschreiben, Arbeitsvermittlung. Wir vermitteln „Paten“, die unbegleitete minderjährige Flüchtlinge begleiten, damit sie in Schule und Ausbildung nicht aussteigen (Projekt NESOLA).
Eine Förderung des gelingenden Zusammenlebens ist und wäre die Anerkennung von im Ausland erworbener gleichwertiger Qualifikationen. Wenn z.B. in Kroatien ausgebildete Pflegekräfte bei uns nur als Hilfskräfte arbeiten dürfen, dann ist das mehr als frustrierend. Die Caritas fordert ferner den sofortigen Zugang zum Arbeitsmarkt für alle, die sich mit Aufenthaltstitel oder Duldung in Deutschland aufhalten.
3. Förderung des Wir-Gefühls
Für das Zusammenleben in unserer bunt gemischten Gesellschaft ist die dritte große Aufgabe, die ich noch erwähne, die Förderung des Wir-Gefühls. Die Erfahrung „Ich gehöre/wir gehören dazu“ ist für die Mitgestaltung des Gemeinwesens ein wichtiges Element. Deshalb sind alle Formen der Gemeinschaft, des Miteinanders zu pflegen. Es sind doch Zeichen gelingender Integration,
wenn bei einem Fest im Stadtviertel sich verschiedene Migranten-Gruppen ganz selbstverständlich beteiligen;
wenn Kinder und Jugendliche in Sportvereinen und Musikschulen dabei sind;
wenn über 100 deutsche, ausländische und auch behinderte Kinder beim Caritas-Projekt „Freudentanz“ in der Öffentlichkeit auftreten, bei Tanzwettbewerben mitmachen, Freizeit verbringen;
wenn Migrantinnen deutschen Frauen ihre nationalen Kochkünste beibringen;
wenn Freundschaften über religiöse und nationale Grenzen hinweg gepflegt werden;
wenn ein fairer, kollegialer Umgangsstil in der Arbeitswelt gepflegt wird …
Zur Förderung des Wir-Gefühls gehört die Förderung der Selbstorganisation: Migranten mit ihrer Erfahrung helfen anderen Migranten. Als Caritas stärken wir diese Eigenkräfte.
Dem Aufbau des gesellschaftlichen Wir-Gefühls dient auch das Kennenlernen unserer abendländischen, deutschen Geschichte, Kultur, Kunst. Als Caritas bilden wir deshalb Frauen zu Museumspädagoginnen aus. In ihrer jeweiligen Muttersprache machen sie Museumsführungen.
Meine Damen und Herren,
in diesem kurzen Beitrag bleibt viel ungesagt, was noch gesagt werden müsste. Doch nicht auf die Worte, sondern auf die Taten kommt es an. Für ein gutes Zusammenleben sind viele konkrete Ansätze und kleine Schritte erforderlich, die meist ohne ehrenamtliches Engagement nicht möglich wären. Gerade die ehrenamtlich Tätigen leisten einen wichtigen, glaubwürdigen Beitrag zur Integration. Dafür ist ihnen herzlich zu danken.
Ein gutes Zusammenleben erfordert aber auch die gesellschaftliche Debatte, in die sich die Caritas der Kirche anwaltschaftlich einbringt. Eine gelungene Integration verlangt immer neu mutige politische Weichenstellungen. Denn was wir heute versäumen, wird zur Hypothek für die Zukunft unserer Gesellschaft.