12 September 2011 09:00 | Neues Rathaus, Großer Sitzungssaal
Migration: Bound to Live Together, S. E. Mons. Antonio Maria Vegliò
Antonio Maria Vegliò
Erzbischof, Präsident des Päpstlichen Rates der Seelsorge für die Migranten, Heiliger Stuhlbiografie
I. Der gegenwärtige europäische Kontext
Mein Beitrag ist vor dem Hintergrund der gegenwärtigen kulturellen Verschiedenheiten zu verstehen (und hier beziehe ich mich insbes. auf das europäische Umfeld), die eine Reflektion über die Bedeutung der Migration erfordern, besonders wenn es um die Frage eines friedvollen Zusammenlebens der Kulturen gehen soll, oder besser gesagt – um einen Ausdruck des Papstes Benedikt VI zu gebrauchen, den er auf dem Weltflüchtlingstag in diesem Jahr geprägt hat – wenn es um den Aufbau „einer einzigen Menschheitsfamilie“ geht, die „dazu gerufen ist, eine Einheit zu bilden in gleichzeitiger Universalität“.
Es ist zunächst festzuhalten, dass Europa historisch gesehen ein multikultureller Kontinent ist. Das Antlitz, das er heute zeigt, ist das Ergebnis der Koexistenz unterschiedlicher Kulturen, und zwar auch dank mannigfacher Wanderungsbewegungen.
Am Ende des 20. und Eingang des 21. Jahrhunderts sind zwei Phänomene feststellbar, die sicherlich innerlich miteinander verbunden sind: Zum einen kann dieser Zeitabschnitt als „Ära der Auswanderung“ bezeichnet werden, andererseits war es aber auch ein „Zeitalter des Nationalismus“, das Ablehnung und systematische Ausgrenzung wahrnehmbar machte, ebenso wie auch Gewalttaten seitens der in Minderheit lebenden Bevölkerungsanteile, sodass es zur Übernahme von politischen Haltungen kam, die kulturellen Unterschieden feindselig gegenüberstanden und auf mehr oder weniger sichtbare Weise Ängste vor der Verschiedenheit angestachelt haben. In allen diesen Fällen wurden die Migrationsströme als Bedrohung für die Identität der autochtonen Bevölkerung empfunden.
Offensichtlich sind Misstrauen und Zurückweisung gegenüber dem Fremden, mit seinen kulturellen, ideologischen, religiösen oder ethischen Unterschieden, keine Neuigkeit. Ein aufmerksames Studium der Geschichte offenbart vielmehr, dass die kulturelle Verschiedenheit Quelle zahlloser Konflikte und Kriege unter den Völkern gewesen ist, die sich bis heute hinziehen.
Angesichts der unmittelbaren Reaktion mit Verdächtigung und Befürchtung, dass der Andere oder der Unbekannte zum Verlust der eigenen Identität beitragen könnte, ist daran zu erinnern, dass die kollektive oder persönliche Identität keine statischen sind, sondern dynamische. Sie konstituieren und erneuern sich jeden Tag neu in den wechselseitigen Beziehungen. Es wäre von Nutzen zu unterstreichen, dass die Geschichte Europas als Kontinent, in einer Linie mit dem größten Teil der Staaten, aus denen er zusammengesetzt ist, geprägt ist von dem Erbe verschiedener Völker, die eine offensichtliche kulturelle Vermischung vollzogen haben. Das erlaubt uns zu sagen, dass die kulturelle Verschiedenheit nicht nur eine Konsequenz der Einwanderung heutiger Tage ist, sondern dass es sich hierbei um eine Charakteristik der europäischen Identität handelt, ohne die man weder die Gegenwart noch die Vergangenheit Europas richtig verstehen könnte. Übrigens ist der Respekt vor der kulturellen und religiösen Verschiedenheit im Europäischen Einheitsvertrag ebenso niedergelegt wie in der Grundrechte-Charta.
Da alle Kulturen von Grenzen umgegeben sind, stellen die Begegnungen der unterschiedlichen kulturellen Gemeinschaften und ihre vorurteilsfreie, gelöste, wechselseitige Anerkennung einen Reichtum dar, ein positives Element unabhängig von den Verschiedenheiten, der die Koexistenz von Menschen unterschiedlicher Kulturkreise hervorbringen kann.
II. Neue Modelle für interkulturelle Lebensweise
Es ist daher Eile geboten, wirkungsvolle Modelle für den Aufbau der Einheit „der Völkerfamilie“ auszumachen. Im Päpstlichen Rat der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs sprechen wir statt vom Multikulturellen lieber vom Interkulturellen.
Der erste Ausdruck konstatiert in rein beschreibender Weise die Gegenwärtigkeit zweier oder mehrerer Kulturen in einem bestimmten geografischen Territorium. Demgegenüber steht der Begriff „Interkulturell“ für gewachsene Beziehungen zwischen den anwesenden Kulturen innerhalb desselben Territoriums. Das Wort legt Wert auf die Haltungen und Zielsetzungen, die erreicht werden sollen und auch auf Lehr- und Erziehungspläne, die zur Begegnung der Kulturen führen.
Ein Dokument unseres Rates ist die Instruktion „Erga mgirantes caritas Chisti“ aus dem Jahr 2004, wo präzisiert wird, dass die Integration der Migranten im Gastland nie gleichbedeutend sein kann mit Assimilation, die ihre Geschichte, Kultur und Identität vergisst oder eliminiert.
Es geht also darum eine Wegweisung für eine autentische Integration auszumachen. Auf der Grundlage einer positiven Bewertung der Kultur eines jeden Migranten besteht zugleich die Notwendigkeit, seine Grenzen anzuerkennen und Anstrengungen für eine heitere, bewusste und vorurteilsfreie Wahrnehmung der Kultur zu unternehmen, eben dadurch, dass man sie als Berreicherungsfaktor auffasst. Gelegenheiten für Annäherungen sind hier wichtig, aber noch mehr kommt es auf Gelegenheiten für einen gegenseitigen Austausch an. Und damit ist nicht nur ein einfacher Austausch dessen gemeint, was man schon hat, sondern vielmehr dessen, was man ist. Die Integration ist also kein Prozess einer Einbahnstraße. Autochtone und Einwanderer werden angeregt, Wege des Dialoges und wechselseitiger Bereicherung abzuschreiten, die eine Bewertung und Aufnahme der positiven Aspekte des jeweils anderen erlauben.
Dieser Prozess muss sich den Respekt vor der kulturellen Identität der Migranten als Ausgangspunkt für eine gewisse Adaption zwischen der Kultur der Autochtonen und der neu Hinzugekommenen vor Augen halten. Es ist wichtig, um es mit einem Zitat von Joh. Paul II auszudrücken, „nicht der Gleichgültigkeit gegenüber den universalen menschlichen Werten nachzugeben, sondern den Schatz des kulturellen Erbes jeder einzelnen Nation zu bewahren“. Dazu unterstrich der Papst weiter, es komme darauf an, „ein gewisses kulturelles Gleichgewicht“ einzurichten, in welchem der humane Reichtum der aufnehmenden Gruppe garantiert wird, diese aber zugleich für die kulturellen Minderheiten offen bleibt, die in ihrem Territorium wohnen.
Vor diesem Hintergrund ist genauer festzuhalten, dass „die Öffnung für unterschiedliche kulturelle Identitäten nicht bedeutet, sie alle wahllos zu akzeptieren, sondern vielmehr sie zu respektieren – da sie an Personen gebunden sind – und ihnen in ihrer Verschiedenheit ggf. Wertschätzung entgegenzubringen. Es ist sorgfältig darauf zu achten, dass kein den verschiedenen Kulturen angehörendes Element den ethischen und universalen Werten oder den humanen Grundrechten entgegensteht. Zudem scheinen mir für die Beförderung des interkulturellen Aspektes zwei Instrumente immer unabdingbarer: der Dialog und die Erziehung zum Interkulturellen.
III. Dialog und Interkulturelle Lebensweise
Der Dialog ist der wichtigste Kanal, er ist so wichtig, dass Benedikt XVI, bezugnehmend auf den europäischen Kontext, sagte: „Das Thema des interkulturellen und interreligiösen Dialoges wird zu einer Priorität für die Europäische Union und durchzieht die Bereiche der Kultur und der Kommunikation, der Erziehung und der Wissenschaft, der Migration und der Minderheiten und reicht bis zu denen der Jughend und des Arbeitsmarktes“.
Gleichwohl stellt sich dein großes Problem. In der Absicht, Personen mit verschiedenartigen kulturellen und/oder religiösen Hintergrund aufzunehmen uind einen konstruktiven Dialto mit ihnen zu führen, hat Europa die Prinzipien und Werte zum Schweigen gebracht, die seine Geburt und Gestalt hervorgebracht hatten. So hat der europäische Kontinent seine christlichen Wurzeln mundtot oder gar zu etwas Unbekanntem gemacht. Das verhindert eine angemessene Aufnahme un deine wirkliche Integration der Immigranten, die aus anderen kulturellen Kontexten kommen, denn es ist unmöglich, einen Dialog mit einem Land aufzunehmen, der mit einer Physiognomie und Geschichte ausgestattet zu sein scheint, aber ohne gemeinsame Prinzipien und Grundwerte dasteht. Auf eine verblasste Identität folgt eine Migrantenaufnahme, die passiv ist und ihre Rechtfertigung in einem eingebildeten Verlangen nach Tolleranz sieht.
Das zweite unabdingbare Instrument ist die Bildung. Unter diesem Aspekt ist es nötiger denn je, die Erziehungsmodelle zu erneuern, damit sie angemessene Antworten auf die aktuellen Herausforderungen bieten können. Es handelt sich vor allem darum, Respekt und Wertschätzung für die verschienden Kulturen zu lehren, indem man die positiven Elemente entdeckt, die darin verborgen liegen können. Es geht aber auch darum zu helfen, Haltungen von Angst oder Gleichgültigkeit gegenüber dem Verschiedenen zu verändern, zur Aufnahme anzuleiten sowie zu Gleichheit, Freiheit, Tolleranz, Pluralismus, Kooperation, Respekt, Mitverantwortlichkeit und Antidiskriminierung zu erziehen. Es geht darum, den Dialog und Zuhören gleichermaßen positiv zu bewerten, dabei zu helfen, Verallgemeinerungen ebenso zu überwinden wie Vorurteile und Stereotypen, und den Individualismus und die Isolierung in Gruppen hinter sich zu lassen, reife Persönlichkeiten zu fördern, die flexibel und offen sind, und schließlich „in sich geschlossene Mentalitäten“ zu vermeiden.
Die interkulturelle Bildung muss selbstverständlich sowohl die Angehörigen der Mehrheitskulturgemeinschaft wie die Mitglieder der Minderheiten umfassen. Was die autochtonen Bevölkerungsanteile betrifft, wird man sich mehr den Werten des Respektes, es wechselseitigen Verständnisses un der Annahme des Migranten zuwenden. Bezüglich der Migranten wird man dagegen ihre Eingewöhnung begünstigen, und zwar unter bestmöglicher Beachtung ihres kulturellen Hintergrundes, und verlangen dürfen, dass alle sich an die Pflichten halten, die Sicherheit und Legalität garantieren.
Schlussfolgerung
Ich bin von dem überzeugt, was auch die apostolische Ermahnung Ecclesia in Europa sagt: „Ein friedvolles Zusammenleben und ein wechselseitiger Austausch der inneren Reichtümer werden den Aufbau eines Europa ermöglichen, das fähig ist, ein Haus zu sein, in dem jeder Aufnahme finden kann, niemand diskriminiert wird und alle als Mitglieder einer großen Familie behandelt werden und verantwortlich leben.“
Ist das eine Utopie? Vielleicht. Doch der Christ muss daran glauben und sich dafür einsetzen, dass die Utopie Wirklichkeit wird.