13 September 2011 09:00 | Residenz, Vier-Schimmel-Saal
Das Geschenk des Alters - Heinrich Mussinghoff
"Das Geschenk des Alters": Ich will bezeugen, dass mich die Freundschaft mit alten Menschen sehr bereichert hat. Da ist meine alte Haushälterin: 100 Jahre und 3 Monate ist sie alt geworden und "lebenssatt" vor 8 Jahren gestorben. Reich war der Schatz ihrer Erfahrung. In ihrer Jugend kamen die ersten Autos und Flugzeuge auf, Radio und Fernsehen, bis sie im hohen Alter von Faxgerät, Computer und Internet wusste. Zwei Weltkriege hat sie leidvoll miterlebt, zwei Brüder sind gefallen. Nachkriegszeit, Wiederaufbau, Zweites Vatikanisches Konzil. Sie hat in Münster zwei Domvikare, beide mit Namen Heinrich, zu Bischöfen erzogen. (Heinrich Tenhumberg und Heinrich Mussinghoff). Sie hat wach das Leben in Kirche und Gesellschaft verfolgt. Sie war ein froher und frommer Mensch. Wir hatten viel Freude miteinander.
Als ich in Trastevere/Rom ein Altenheim der Comunità di Sant'Egidio besuchte und Don Ambrogio mich als Bischof von Aachen vorstellte, sagte eine alte Dame mit Würde: "Ed io sono Serafina." Wir haben uns nett unterhalten.
Beim Besuch in einem Kindergarten unseres Bistums traf ich die Kinder traurig vor. Die "Märchenoma" vom Altersheim nebenan war gestorben. Sie hatten sich angefreundet und warteten immer schon gespannt auf neue und alte Geschichten, die ihnen ihre "Märchenoma" erzählte.
Es gäbe viele Geschichten zu erzählen von der Lebensqualität, die das Alter haben kann. Ich liebe alte Menschen mit ihrem Schatz an Erfahrung, mit ihrer Treue zum Gebet, mit ihrer Liebe zu den jungen Menschen.
In vielen alten Kulturen galten und gelten alte Menschen als verehrungswürdig wegen ihrer Weisheit. Im Alten Testament erreichten die Stammväter und Erzväter ein fast astronomisches Alter. Adam wurde 930 Jahre alt, Methusalem gar 969 Jahre und Abraham wenigstens 175 Jahre. Der 71. Psalm, das Gebet eines alten Menschen, sagt:
"Gott, du hast mich gelehrt von Jugend auf.
Und noch heute verkünde ich
dein wunderbares Walten.
Auch wenn ich alt bin und grau,
verlass mich nicht" (Ps 71, 17 f.).
Die steigende Lebenserwartung vieler Menschen: Problem oder Chance? In der Tat ist es ein Massenphänomen geworden, dass die Menschen heute immer älter werden. Gute Medizin, ausreichende Ernährung, sorgsame Hygiene haben dazu geführt, dass die Lebenserwartung der Menschen sich erhöht hat und noch weiter wächst. In Europa sind 80 Jahre die Lebenserwartung der Frauen, 73 Jahre der Männer.
Ein beachtlicher Fortschritt, an dem Wissenschaftler kontinuierlich gearbeitet haben. Ein Hundertjähriger, eine Hundertjährige sind heute keine Seltenheit mehr. Wir sollten uns freuen, dass unser Leben so lange währt. Es ist eine Gabe Gottes, dass er unsere Lebenserwartung verlängert hat. Wir Menschen sollten dankbar sein für diesen Fortschritt.
In unseren Gesellschaften werden die alten Menschen eher als Problem angesehen. Sie haben vor allem in der Stadt ihren Ort verloren. In den Familien ist kein Platz für sie. So leben sie am Rande der Gesellschaft, in Altenheimen und Asylen, vereinsamt und alleingelassen. Weil sie nicht mehr leistungsfähig sind, werden sie als nutzlos eingeschätzt. In Europa leben viele auch an der Armutsgrenze. Ihr Wissen ist wirtschaftlich nicht mehr verwertbar, da veraltet und durch technische Neuerungen überholt. Sie werden immer mehr und kosten immer mehr an Renten und Krankheitskosten. Ihnen stellt sich das Gefühl ein, dass sie eine Belastung der Gesellschaft sind. Die Diskussion, ob einem 75-Jährigen noch bestimmte Gesundheitsleistungen zustehen oder ob noch eine Operation durchgeführt wird, ob ein Herzschrittmacher noch eingepflanzt oder eine Magensonde zwecks Ernährung und Flüssigkeitszufuhr angelegt werden soll, ist in vollem Gange. Sind alte Menschen "lebensunwertes Leben"? Manche alte Menschen sterben den gesellschaftlichen Tod schon vor ihrem physischen Sterben.
Die Niederlande und Belgien haben die Euthanasie eingeführt. In ganz Europa wird sie diskutiert, dass unter Beachtung bestimmter Sorgfältigkeitskriterien Tod auf Verlangen verabreicht werden kann, die tödliche Tablette, die Spritze am Ende. Vor allem bei unerträglichen Schmerzen und aussichtsloser Krankheit wird der Todeswunsch wach, aber bei Alten auch, weil sie an Blicken und Verhalten spüren, dass sie unerwünscht, ja überflüssig sind und stören. Dabei kann die Palliativmedizin und Schmerztherapie in 99% der Fälle die Schmerzen nehmen oder doch erheblich lindern. Wo fachliche Pflege und vor allem menschliche Zuwendung geschehen, taucht der Todeswunsch erst gar nicht auf.
Es besteht also ein tiefer Riss zwischen den Errungenschaften des medizinischen Fort-schritts, der uns langes Leben bringt, und der gesellschaftlichen Wertschätzung, die alte Menschen an den Rand der Gesellschaft, in die Einsamkeit und in den Tod drängt. Auch der Kollaps unserer Renten- und Gesundheitssysteme wird den alten Menschen, die angeblich zu lange leben, angelastet und nicht denen, die seit Jahren dem Rückgang der Geburtenziffern zusehen, ohne politisch gegenzusteuern.
Vor 35 Jahren hat die Comunità di Sant'Egidio die Freundschaft mit den alten Menschen entdeckt. Sie sind eine Bereicherung unseres Lebens, Geschenk Gottes.
Alte Menschen bewahren ein Lebenswissen, das einen großen Reichtum darstellt. Ich konnte durch meine 100-jährige Haushälterin mit ihren Erzählungen über ihre Eltern und Großeltern bis weit zurück in den Anfang des 18. Jahrhunderts schauen, mit all den Tatsachen, Erinnerungen und Empfindungen. Die Erfahrungen alter Menschen sind heute nicht von wirtschaftlichem Nutzen, sondern von Lebenswert, weil sie von erlebter Geschichte und durchlebter Zeit sprechen.
Alte Menschen sind lebendige Zeugnisse, dass nicht Nutzbarkeit, Wirtschaft und Gewinn die einzigen Werte sind, um die sich diese Welt dreht, sondern dass Leben, Geschichte und Leid, erlittene Schuld und tapferes sowie schöpferisches Sein hohe Werte an Lebensqualität beinhalten. Gerade in ihrer Hilfsbedürftigkeit und Pflegebedürftigkeit fordern sie uns heraus, ihnen Samariter und Wirt zu sein, wie uns die lukanische Geschichte vom barmherzigen Samaritan erzählt, in dem Christus uns begegnet.
Die alten Menschen bezeugen die Ablehnung von Krieg und Gewalt. Sie haben zwei Weltkriege erlebt mit ihren Schrecknissen, mit ihren Millionen Toten und mit viel seelischem Leid. Sie haben Kriegsgefangenschaft erlebt, mussten Tote beklagen, haben den Verlust von Haus und Heimat erfahren. Sie sind uns Mahner zum Frieden in einer Welt, die immer wieder zu Hass und Gewalt neigt. Ihre Friedenssehnsucht mahnt uns, vor allem die jungen Menschen, gegen Vergeltungsschläge, ethnische Säuberungen, Terrorismus und Gewalt anzugehen.
Zwar gilt auch, die neuen Alten sind nicht mehr die alten Alten, denn auch hier hat sich ein Wandel vollzogen in den konkreten Werten, die sie heute leben, und in der Religiosität, die praktiziert wird. Dennoch gibt es eine Spiritualität des alten Menschen. Sie stehen oft treu zu Glaube und Kirche, pflegen Gebet und Frömmigkeit. Vielen ist der Rosenkranz wert und lieb. Viele beten in den Nöten der Welt und für die Anliegen der Kirche. Viele besuchen gern die hl. Messe und den Gottesdienst. Viele, die den Glauben verloren haben, können durch religiöse Menschen neuen Zugang zu Gott finden. Es gilt, mit den alten Menschen Sinn für ihr Leben auch im Alter zu suchen und ihr Leben sinnvoll zu gestalten. "Auf diese Weise wird das Alter nicht als ein Schiffbruch erlebt werden, sondern als eine Ankunft in einem Hafen, wo sie die Liebe Gottes erfahren und selbst weitergeben."
Wenn heute viele Ehen scheitern, Kinder keine Erziehung zu Werthaltungen und Glaubenspraxis in der Familie erhalten, der Konsens in den Grundwerten unserer Gesellschaft sich auflöst, dann sind es oft die alten Menschen, die uns an tragende Werte des Lebens erinnern, an Glaube und Treue, an Leidensfähigkeit und Freude.
Wo alte Menschen Zuneigung, Freundschaft und Liebe erfahren, blühen sie auf. Im Alter gibt es weite Räume des Lebens. Man muss den alten Menschen helfen, diese zu entdecken. Dies ist möglich, wenn die Gemeinschaft, in welcher der alte Mensch lebt, ihrerseits das Alter akzeptiert und ihm Bedeutung, Wert und Rechte zuerkennt und den alten Menschen die Möglichkeit gibt, in rechter Weise alt zu werden. Die Kunst zu altern hängt nur zum Teil von der Einzelperson ab, im übrigen von dem Umstand, wer um ihn herum ist – die Familie, die Freunde, das soziale Umfeld, die Einrichtungen, die Dienste – sie bieten ihm Lebensbedingungen, die er selbst sich nicht geben kann. Ohne Liebe sterben die Alten. Man muss die alten Menschen lieben, damit die Tugenden des Alters blühen und Frucht bringen können. Und dafür bin ich, sind alle, die alte Menschen besuchen und betreuen, sind Sie alle verantwortlich. Wenn wir Liebe teilen und mitteilen mit alten Menschen, dann wird sie nicht weniger, sondern mehr. Das ist das Geheimnis wahrer Liebe.
Ich kenne eine Ikone der Hoffnung: Das war unser Heiliger Vater Papst Johannes Paul II. Je älter, schwächer und gebrechlicher er körperlich wurde, umso stärker erfuhr ich ihn. Sein körperliches Leiden und seine Schmerzen gingen uns zu Herzen. Der Mut und die Kraft seines Geistes bleiben ungebrochen. So ist er ein Anker der Hoffnung für alte, kranke und leidende Menschen geworden. Wie kraftvoll hat er sich in der Irakkrise, im Irakkrieg und im Nachkriegsgeschehen für den Frieden eingesetzt. Alle Politiker von Rang in dieser Welt haben ihn besucht, sind mit ihm in Verbindung getreten. Er wurde die moralische Autorität für Gerechtigkeit und Frieden in dieser Welt. Unser Heiliger Vater Papst Benedikt mit seinen 84 Jahren setzt diese Haltung fort. Mit seinen Schriften, Predigten und Ansprachen, besonders mit seinen Enzykliken "Deus caritas est" (2005) und "Caritas in veritate" (2009) führt er uns zum Kern menschlicher Existenz und gesellschaftlichen Lebens: zur Liebe. Gerade in ihrem Alter sind die Päpste uns und den alten Menschen Ikonen der Hoffnung und dafür bin ich ihnen dankbar.
Es ist der greise Simeon, der im Tempel den jungen Jesus auf seinen Armen hält. Er steht für alle alten Menschen, die Gottes Heil erwarten:
"Nun lässt du, Herr, deinen Knecht
in Frieden scheiden.
Denn meine Augen haben dein Heil geschaut,
das du vor allen Völkern bereitet hast"
(Lk 2, 29 f.)