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Susanne Bühl

Gemeinschaft Sant'Egidio, Deutschland
 biografie
Erst seit etwa einem halben Jahrhundert ist der Islam in Europa mit einer größeren Zahl von Gläubigen dauerhaft präsent. Dies ist eine neue geschichtliche Situation. Freilich spielt der Islam in Europa schon seit Jahrhunderten eine Rolle. Ein kurzer Blick in die Geschichte: Durch die arabische Expansion sind Teile Europas mehr oder minder langfristig unter islamische Herrschaft gekommen - die iberische Halbinsel im 8. Jahrhundert, Sizilien im 9. Jahrhundert und große Teile Südosteuropas seit dem 14. Jahrhundert. Die historische Wahrnehmung des Islams durch die Europäer ist wohl vor allem durch Konflikte geprägt: Man denke  an die Kreuzzüge, an die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453 oder die türkischen Belagerungen Wiens in der frühen Neuzeit. Man sollte aber nicht vergessen, dass diesen Konflikten auch vielfältige kulturelle Kontakte gegenüber stehen. Die arabische Sprache ist eine wichtige Brücke der europäischen Kultur in die Antike: Naturwissenschaftliche und philosophische Schriften griechischer Denker waren in arabischer Übersetzung erhalten und fanden so Eingang in die europäische Kultur. Seit dem Zeitalter der Aufklärung spielt auch die Rezeption orientalischer Kultur in der europäischen Kunst und Literatur eine wichtige Rolle, wie beispielsweise an Goethes West-östlichem Divan deutlich wird.
Im 20. Jahrhundert kam es in Europa durch größere Migrationsströme zu einem intensiveren Kontakt mit dem Islam als je zuvor. In den 60er Jahren warb Deutschland aufgrund seines Bedarfs an Arbeitskräften ausländische Arbeiter an, unter ihnen auch Muslime, vor allem aus der Türkei. Die staatlichen Stellen dachten anfangs nicht an eine dauerhafte Einwanderung. Doch blieb etwa ein Viertel der Arbeitskräfte, die als sogenannte Gastarbeiter kamen, dauerhaft im Land. Aufgrund einer Rezession wurde im Jahr 1973 ein Anwerbestopp verhängt. Seitdem erfolgt bis auf wenige Ausnahmen keine Zuwanderung von Arbeitskräften mehr. Die Ausländer, die bis heute nach Deutschland einwandern, kommen meist im Rahmen des Familiennachzugs oder aufgrund von Flucht vor politischer Verfolgung oder vor Bürgerkrieg. Nach den Anwerbeaktionen der 60er Jahre sollte es Jahrzehnte dauern, bis man von Deutschland als einem Einwanderungsland sprach. Über lange Zeit hinweg schien es, als wolle man sich mit dieser gesellschaftlichen Realität eher nicht auseinandersetzen. Demzufolge wurden auch bis in die 1990er Jahre hinein nur wenig Maßnahmen zur Integration der Ausländer getroffen. 
Dies wirkte sich auch auf die Lebensbedingungen der Muslime in Deutschland aus. Vor allem für diejenigen, die dauerhaft blieben, stellte sich auch immer mehr die Frage nach den Möglichkeiten, ihre Religion hier auszuüben. Es entstanden die sogenannten „Hinterhofmoscheen“, eher provisorische Örtlichkeiten. Erst nachdem die zugewanderten Muslime mehr in Deutschland Fuß gefasst hatten, konnten Moscheebauten errichtet werden, so dass auch äußerlich sichtbar wurde, dass der Islam in Deutschland angekommen ist. 
Wie sieht muslimisches Leben heute in Deutschland aus? Kurz möchte ich auf einige Ergebnisse einer aktuellen Studie der Deutschen Islam Konferenz eingehen. Danach leben 3,8 bis 4,3 Millionen Muslime in Deutschland, sie stellen damit rund 5% der Bevölkerung und etwa ein Viertel der in Deutschland lebenden Personen mit Migrationshintergrund. Deutschland folgt damit in Europa auf Frankreich mit 10% Muslimen in der Bevölkerung, den Niederlanden mit 5,2% und Schweden mit 5%.  63% der Muslime in Deutschland sind türkischstämmig, 14% kommen aus südosteuropäischen Ländern, 8%  aus dem Nahen Osten. 45% von ihnen haben die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. 90% der in Deutschland lebenden Muslime bezeichnen sich als religiös.  Die religiöse Praxis der Muslime ist nach Herkunftsregion und Konfession sehr verschieden. Jeweils etwa ein Drittel von ihnen besucht häufig, selten oder nie die Moschee. Ihr Organisationsgrad ist eher niedrig; nur ca. 20% von ihnen sind in religiösen Vereinen und Gemeinden organisiert. Eher wenig bekannt ist in der deutschen Bevölkerung, dass sich die hier lebenden Muslime stark mit Deutschland identifizieren: 70% von ihnen fühlen sich mit Deutschland stark verbunden; 36% haben eine stärkere Verbindung zu Deutschland als zu ihrem Herkunftsland.  Nach internationalen Studien haben 40% der in Deutschland lebenden Muslime eine enge Bindung zur Bundesrepublik, aber nur 34% der Gesamtbevölkerung. Auch das Vertrauen der Muslime in wichtige deutsche Institutionen ist danach wesentlich größer als das Vertrauen der Gesamtbevölkerung – z.B. das Vertrauen in die Justiz mit 73% im Vergleich zu 49% der Gesamtbevölkerung. Studien wie die erwähnte sind sehr wertvoll, da die deutsche Gesellschaft auch nach einem nun schon jahrzehntelangen Zusammenleben relativ wenig von ihren muslimischen Mitbürgern weiß.
Allmählich verwurzelt sich das muslimische Leben in Deutschland. Islamischen Religionsunterricht nach Art. 7 III GG, der dem Religionsunterricht der christlichen Kirchen oder der jüdischen Religionsgemeinschaft gleichgestellt wäre, gibt es bislang noch nicht. Grund ist die fehlende Verfasstheit der Muslime in Entsprechung zu den Kirchen oder dem Zentralrat der Juden in Deutschland, die nach wohl mehrheitlicher Auffassung  die verfassungsrechtliche Voraussetzung für einen solchen Unterricht wäre. In etlichen Bundesländern wurden aber Modellversuche initiiert, oder es wurde das Schulfach mit  Bezeichnungen wie „islamische Unterweisung“ eingeführt, um jedenfalls zu gewährleisten, dass muslimische Kinder und Jugendliche in öffentlichen Schulen Kenntnisse über ihre Religion erlangen. Auch gibt es Bestrebungen, dass an deutschen Universitäten Imame und islamische Religionslehrer ausgebildet werden. Dies wird seitens der deutschen Wissenschaft und der Politik immer wieder gefordert. Ab dem kommenden Wintersemester werden erstmals an der Universität Tübingen  islamische Geistliche ausgebildet. 
Eine wichtige Etappe auf dem Weg, auf dem der Islam immer mehr in Deutschland „ankommt“, war die Einrichtung der Deutschen Islam Konferenz durch die Bundesregierung im Jahr 2006. Gesprächspartner sind staatliche Vertreter und Vertreter der Muslime in Deutschland, wobei hier Vertreter muslimischer Verbände wie auch Einzelpersönlichkeiten berufen werden. Die Konferenz kommt zu regelmäßigen Gesprächen zusammen und behandelt eine Vielfalt von Themen wie etwa Integration und Bekämpfung von Diskriminierung, aber auch innere Sicherheit. 
Neben dem gesellschaftlichen Dialog findet auch ein Dialog zwischen den Religionen auf verschiedenen Ebenen in Deutschland statt, der sicher noch intensiviert werden kann und muss. In der katholischen Kirche war das II. Vatikanische Konzil ein wichtiger Wendepunkt. Mit dem Thema des Dialogs mit anderen Religionen betrat sie ein neues Feld. Hier sei auf die  Konzilserklärung Nostra Aetate von 1965 verwiesen, in der besonders der Islam und das Judentum als Gesprächspartner benannt werden.  Papst Johannes Paul II. hat diese Ideen des Konzils umgesetzt, als er im Jahr 1986 die Weltreligionen zum Weltfriedensgebetstag nach Assisi einlud. Er war überzeugt, dass die Religionen eine gemeinsame Verantwortung für den Weltfrieden wahrnehmen können. Dieser „Geist von Assisi“ bewog die Gemeinschaft Sant’Egidio dazu, seit 1987 zu den internationalen Friedenstreffen einzuladen, an denen von Anfang an auch bedeutende muslimische Vertreter teilnahmen und den Weg dieser Treffen mit geprägt haben. 
Die Gemeinschaft Sant’Egidio ist aber noch in anderer Weise im Dialog unter den Religionen engagiert. Unsere Dienste für die Armen in 70 Ländern der Welt richten sich immer an Menschen aller Religionen, und oft bieten sich dabei Gelegenheiten zur interreligiösen Begegnung. Ich möchte hier auch ein persönliches Beispiel beitragen: Im Rahmen meines Engagements bei Sant’Egidio besuche ich Ausländer, die im Gefängnis auf ihre Abschiebung warten müssen. Immer wieder spielt in den Gesprächen mit ihnen die Religion eine Rolle. Besonders hat sich mir ein Nachmittag im Gefängnis ins Gedächtnis eingeprägt, an dem mich dort drei Muslime auf den Tod von Johannes Paul II. ansprachen, der am Tag zuvor verstorben war. Sie drückten mir ihr Beileid aus und nannten ihn einen großen Mann. Ihre Wertschätzung für den Papst und ihre Anteilnahme haben mich sehr beeindruckt.   
Ein wichtiger Ort der interreligiösen Begegnung bei Sant’Egidio ist die Sprachschule der Gemeinschaft, in der Zuwanderer aus verschiedenen Kulturen und Religionen in der Sprache ihres Gastlandes unterrichtet werden. Mit vielen von ihnen hat Sant’Egidio Ende der 1990er Jahre die Bewegung „Menschen des Friedens“ ins Leben gerufen. Heute gehören ihr über 20.000 Frauen und Männer aus über 120 Ländern an. Delegationen der Bewegung aus verschiedenen Ländern sind auch hier in diesen Tagen in München unter uns. Im Gründungsmanifest der Bewegung heißt es: „Wir alle haben einen Traum: dass die Völker zusammenleben, damit niemand mehr ein Leben als Fremder führen muss. Wir wollen eine Bewegung aus unterschiedlichen Menschen sein, in der Verschiedenheit einen Wert darstellt. Wir wissen, dass Respekt vor dem anderen, Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit und gegenseitige Hochachtung kein Traum sind, sondern das Geheimnis bilden, das die Erde rettet, auf der wir leben.“ In dem Manifest verpflichten sich die Mitglieder der Bewegung zum Einsatz für den Frieden, zum Respekt vor allen Menschen, zur Gewaltlosigkeit und zur Solidarität mit den Leidenden und Schwachen. 
Für „Menschen des Friedens“ sind einige Verabredungen im Jahr besonders wichtig, die den Geist der Bewegung sichtbar machen: An Weihnachten lädt die Gemeinschaft Sant’Egidio ihre Freunde aus den verschiedenen Kulturen und Religionen zu einem gemeinsamen festlichen Weihnachtsessen ein und zeigt somit, dass sie zum Fest der Familie an all ihre Freunde denkt und mit ihnen feiern möchte. „Menschen des Friedens“ helfen bei der Vorbereitung und Durchführung des Festes. Weitere feste Verabredungen der Bewegung sind das muslimische Opferfest und das Fest zum Ende des Ramadan. An diesen Festen nehmen viele Muslime teil und können so auch fern von ihrer Heimat ihre Traditionen gemeinsam mit anderen fortführen. Zu denen, die beim Fest bedienen und helfen, gehören ganz selbstverständlich Christen, Juden, Buddhisten, Hindus und Nichtgläubige. In einigen Gefängnissen Europas lädt die Gemeinschaft Sant’Egidio auch Muslime zum gemeinsamen Fastenbrechen ein. Die Feste der verschiedenen Religionen sind also für die Bewegung Menschen des Friedens immer ein Anlass, Glückwünsche an Freunde zu übermitteln und Anteil zu nehmen an der Tradition und der Religion des anderen. 
Ich denke, diese Beispiele veranschaulichen, wie die Gemeinschaft Sant’Egidio mit ihrer Arbeit den Dialog zwischen Christen und Muslimen an vielen Orten der Welt voranbringt, nicht nur zwischen den Verantwortlichen der Religionen, sondern auch zwischen den „einfachen“ Gläubigen. Das Miteinander der Religionen und Kulturen – das zeigen besonders diese Tage des Internationalen Friedenstreffens – ist ein wertvoller Beitrag, ja eine unabdingbare Voraussetzung für den Frieden, und dazu kann jeder seinen Teil beitragen.