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Daniel Deckers

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Deutschland
 biografie

Es war am vergangenen Mittwoch, als mich auf dem Weg in die morgendliche Sitzung der leitenden Redakteure in Kollege aus der Nachrichtenredaktion abfing und fragte, ob ich nicht für die Ausgabe des nächsten Tages eine kurze Bestandsaufnahme des Themas "Ökumene" machen könnte. Der Anlass war, wie Sie vielleicht gelesen haben, ein Aufruf namhafter katholischer und protestantischer Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die der Ökumene einen neuen Schub zu geben. Gesagt, getan, denn schon während des Gesprächs mit meinem Kollegen erinnerte ich mich an ein ökumenisches Dokument, das vor nunmehr elf Jahren in Straßburg unterzeichnet wurde und das zu einem Meilenstein der Ökumene in Europa hätte werden sollen und bis heute nicht wurde.
Es handelt sich um die sogenannte "Charta Oecumenica", unterzeichnet im Namen der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) von dem damaligen Schweizer Metropoliten Jéremie, im Namen des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen von Kardinal Vlk, dem mittlerweile emeritierten Erzbischof von Prag. Ich möchte es Ihnen hier ersparen, den gesamten Inhalt der Charta wiederzugeben und muss Sie bitten, meiner summarischen Einschätzung zu glauben, dass es der Charta so erging wie so vielen anderen Dokumenten auch. Sie waren und sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind.
Oder haben Sie je etwas davon gehört, dass KEK und CCEE stärker zusammenarbeiten oder dass nach der Europäischen Ökumenischen Versammlung von Hermannstadt (Sibiu) eine weitere in Planung ist? Was ist aus der Förderung des Dialogs zwischen den Kirchen geworden und dem Bestreben, "Dialogergebnisse kirchenamtlich verbindlich" zu erklären? Und was aus der Selbstverpflichtung, "bei Kontroversen, besonders wenn es bei Fragen des Glaubens und der Ethik eine Spaltung droht, das Gespräch zu suchen und diese Fragen gemeinsam im Licht des Evangelium zu erörtern?"
Aus meinen im Wesentlichen auf Deutschland und Westeuropa beschränkten Erfahrungshorizont kann ich Ihnen versichern, dass es dazu zwischen Protestanten und Katholiken seit langem nicht mehr kommt. In bioethischen Fragen sprechen die Kirchenleitungen und die Fachtheologen mittlerweile so oft eine verschiedene Sprache, dass die Kirchen selbst die Rede vom "christlichen Menschenbild" ad absurdum führen. Was nämlich soll man von einem Menschenbild halten, aus dem nicht mit hinreichender Gewissheit hervorgeht, ob es im Sinn des Schöpfergottes ist, wenn Embryonen zu Zwecken der Stammzellforschung erzeugt und getötet werden. Die Liste der Dissenspunkte ließ sich mühelos verlängern, die Frage der ethischen Bewertung von Homosexualität eingeschlossen.
Ich erwähne das deswegen, weil ich an den Anfang meiner Überlegungen die Behauptung stellen möchte, dass es in Zeiten der Krise Europas wohlfeil ist, Politiker als unfähig oder als machtbesessen darzustellen, Nationen als egoistisch oder präpotent, die Banken und die internationalen Finanzmärkte als gierig und verantwortungslos und so weiter ..
Dass es sich so verhalten mag, möchte ich nicht in Abrede stellen. Doch wenn das Wort von Joseph Kardinal Ratzinger zutreffen sollte, dass Europa "ausgerechnet in der Stunde seines äußersten Erfolges von innen her leer" geworden sei, dann neige ich dazu, diesen Satz nicht zuletzt auf jenes Europa der Kirchen zu beziehen, die weder nach innen noch nach außen eine gemeinsame Sprache gefunden haben und in denen viele mentale und kulturelle Grenzen noch so fortleben, als sei die europäische Einigung zuletzt nur noch ein Projekt säkularer Eliten gewesen und nicht auch ein Projekt der Christen, was sie ja im Anfang war.
Natürlich möchte ich das viele Gute in Abrede stellen, das Christen auch heute in und für Europa tun. Alleine das Osteuropa-Hilfswerk Renovabis der deutschen Katholiken unterstützt in jedem Jahr zahllose Projekte in den Ländern, die vormals hinter dem Eisernen Vorhang lagen. Und schon die Tatsache, dass das Friedenstreffen der Gemeinschaft Sant Egidio in diesem Jahr in Sarajevo stattfindet, könnte die Hoffnung nähren, dass die Zeiten des krieges niemals wiederkehren.
 Doch wer hätte Mitte der achtziger Jahre ahnen können, dass die Zerfallsgeschichte Jugoslawiens mit Blut geschrieben würde, die Transformationen der Länder in Mittel- und Osteuropa aber weitgehend unblutig verliefen? Und wer hätte noch vor wenigen Jahren, genauer vor dem Ausdruck der Wirtschafts- und Finanzkrise im Herbst 2008, vorhersagen können, dass sich mitten in Europa Gräben wiederauftun, die man unter mehr als 50 Jahren europäischer Einigungsgeschichte auf Nimmerwiedersehen begraben glaubte? Mein Deutschland auf dem Sprung zu europäischer Hegemonie?
Immerhin werden gegen dieses Deutschland keine militärischen Allianzen mehr geschmiedet. Aber um das Diktum Kardinal Ratzingers aus dem Jahr 2004 abzuwandeln - ist Europa nicht ausgerechnet in der Stunde seines äußersten  Erfolges in Gestalt einer Währungsunion so von innen her leer gewesen, dass diese an den Ungleichgewichten der Wirtschaftsverfassung und der Sozialsysteme scheitern muss und das Einigungswerk zweier Generationen mit sich zu reißen droht?
Wobei es - das mögen Sie mir nachsehen - in Europa um alles andere als um einen Krieg Deutschlands gegen alle oder einen Krieg aller gegen Deutschland geht? Oder sollen etwa Esten oder Slowenen mit ihrem bescheidenen, nach 1999 mühsam erworbenen Wohlstand ein Staatswesen namens Griechenland alimentieren, in dem nach jeder Parlamentswahl 50 000 sogenannter Arbeitsplätze im Staatsdienst geschaffen wurden und das sich noch immer eine schamlos überdimensionierte Armee leistet, die zu den Einsparungen leider kaum etwas beitragen kann?
Nun mögen über die ökonomischen und politischen Dimensionen der Staatsschuldenkrise Berufenere sprechen als ich. Ich möchte den Blick vielmehr nochmals auf jenes vorhin zitierte Diktum Ratzingers alias Papst Benedikt XVI. lenken. Mit "leer werden" meinte er außer dem inneren Absterben der tragenden seelischen Kräfte auch die physische Entleerung des Kontinents infolge der niedrigsten Geburtenraten weltweit. Damit, so der heutige Papst, sei "auch ethnisch Europa auf dem Weg der Verabschiedung begriffen".
An dieser Diagnose ist nicht zu zweifeln, auch wenn man sich hüten sollte, dieses Zitat zur Rechtfertigung von Fremdenfeindlichkeit zu missbrauchen. Kardinal Ratzinger lag an etwas anderem: Nirgendwo auf der Welt sind die Geburtenraten so niedrig wie in Europa, zumal im romanisch-katholischen Mittelmeerraum, nirgendwo sinkt die Lebenserwartung schneller als in Russland, wo Alkoholismus und Gewalt nicht erst seit dem Fall des Eisernen Vorhangs eine ganze Gesellschaft ruinieren.
Wobei man sich vor einem Missverständnis hüten sollte: Sinkende Geburtenraten gerade in Südeuropa könnten unter dem Eindruck der sozialen Verwerfungen, die mit der Wirtschafts- und der Staatsschuldenkrise einhergehen, als Ausdruck mangelnden Vertrauens in die Zukunft interpretiert werden, wenn nicht als Armutsphänomen. Das Gegenteil ist richtig: die Geburtenraten sanken, je mehr der Wohlstand zunahm, Fortpflanzung und Sexualität entkoppelt wurde und die Emanzipation der Frauen darin ihr Ziel fand, es den Männern in ihrem Fixierung auf Selbstverwirklichung in Erwerbsarbeit gleichzutun. Es wäre naiv, sich den status quo ante zurückzuwünschen. Aber ob der status quo ein wünschenswerter ist, wäre noch beweisen. 
Was kann es also heißen, von einer "Wiedergeburt" Europas zu sprechen? Wenn Sie mir erlauben, so möchte ich für die Idee werben, dass die Wiedergeburt Europas damit anfängt, dass wieder mehr Männer und Frauen sich dafür entscheiden, einander im Vertrauen auf Gottes Hilfe zu versprechen, einander zu lieben, zu achten und zu ehren, kurz, die Ehe zu schließen, und als Mann und Frau das Geschenk des Lebens weitergeben. Wiedergeburt heißt ganz banal wieder mehr Geburten und  
Dass die Wiedergeburt Europas mit "wieder mehr Geburten" anfängt, heißt alles anderes, als dass sie damit schon zu Ende wäre.
Ein zweites Element der Wiedergeburt will mir darin liegen, dass man sich darüber verständigt, welches Europa überhaupt gemeint ist, das der Wiedergeburt wert sein soll. Dasjenige Europa, von dem zwei Weltkriege ausgingen, kann sicherlich nicht gemeint sein. Ebensowenig dasjenige, in dem die europäischen Mächte das Blutvergießen auf dem Balkan nicht verhindern konnten oder wollten.
Es kann aber, so meine ich, auch nicht ein Europa sein, das in Form einer Übersprunghandlung alles für europäisch erklärt, was europäisch sein möchte. "Europa" ist und bleibt kein geographischer, sondern ein kultureller und historischer Begriff. Er hat sich als Selbstbeschreibung erst unter dem Ansturm der Osmanen in der Frühen Neuzeit durchgesetzt.
Was ist aber dann "europäisch", was sich im Gegensatz etwa zu islamisch geprägten Kulturen herausgebildet und behauptet hat? Manches ließe sich anführen: die Trennung von Sacerdotium und Imperium etwa, die Trennung von Recht und Moral, oder auch die Gewaltenteilung? Doch Vorsicht - in diesem Sinn europäisch ist wenn überhaupt nur der lateinische Westen Europas. Im Osten gegen die Uhren bis heute anders, und das nicht gerade wenig.
Was also ist zu tun? Einen Masterplan für "die Wiedergeburt" Europas kann es nicht geben. Aber es wäre schon viel gewonnen, wenn es möglich wäre, über Europa in anderen Worten zu sprechen als in Akronymen wie EZB, ESM, EFSF oder in Kategorien wie Spreads oder Eurobonds. Für meine Generation und erst recht die meiner Eltern war Europa immer die Verheißung eines Friedens, den die Generation meiner Großeltern wie so ziemlich alle Generationen vorher nicht erleben durften. Und eines Friedens, wie er in den meisten Regionen der Welt noch immer nicht selbstverständlich ist.
Diesen Frieden - und nicht allein den Wohlstand - gilt es immer wieder neu zu festigen. Und das durchaus auch im Zusammenleben von Menschen verschiedener religiöser Überzeugungen und Hautfarben mitten in Europa. Dazu können und müssen die Kirchen mehr als alle anderen Institutionen beitragen. Dazu und noch zu vielem mehr haben sie sich vor elf Jahren in der "Charta Oecumenica" verpflichtet. Daher mein Vorschlag. Wiedergeburt beginnt nicht damit, Europas Zukunft zu suchen, sondern zu finden - das Wichtigste ist längst gesagt und noch längst nicht getan. Etwa der Maxime zu folgen, dass nicht mehr das gemeinsame Handeln der Rechtfertigung bedarf, sondern das getrennte.  Eine gute Maxime auch für die europäische Staaten- und Völkergemeinschaft, nicht wahr?