Eure Heiligkeiten, Herr Präsident der Republik,
Verehrte Verantwortliche der Weltreligionen,
diese Begegnung des Gebets und des Dialogs für den Frieden, die seit langer Zeit vorbereitet worden ist, musste aufgrund der momentan schwierigen Situation auf ihre wesentlichen Bestandteile reduziert werden. Ich danke allen, die eine Reise auf sich genommen haben, um hierher zu kommen, wie Patriarch Bartholomäus und andere Teilnehmer.
Heute haben die religiösen Gemeinschaften Seite an Seite gebetet. Nun wenden sie sich – mittels einiger ihrer Vertreter – mit einer Botschaft des Friedens an die Öffentlichkeit. Die bedeutende Wende, die durch die Begegnung von Assisi hervorgerufen wurde, zu der Papst Johannes Paul II. im Jahr 1986 eingeladen hatte, besteht darin, dass die Religionen einen Schlussstrich unter jene Praxis gezogen haben, gegen die anderen Religionen zu leben und zu beten – eine Praxis, die lange Zeit in einem Klima von Fremdheit und Hass vorherrschte. Heute beten sie Seite an Seite. Johannes Paul II. sagte damals: „Der Friede wartet auf seine Propheten. Wir haben gemeinsam unsere Augen mit Friedensvisionen gefüllt: sie setzen Kräfte frei für eine neue Sprache des Friedens, für neue Gesten des Friedens, Gesten, welche die verhängnisvollen Ketten der Entzweiungen zerbrechen, die von der Geschichte ererbt oder durch moderne Ideologien geschmiedet worden sind”.
In den nahezu fünfunddreißig Jahren, die hinter uns liegen, wurden kreative und befreiende Kräfte des Friedens entfesselt. Leider hat sich das Zusammenleben in manchen Situationen verschlechtert und leider sind neue Kriege entstanden.
Dennoch müssen wir anerkennen, dass auch neue Wege zum Frieden möglich wurden, weil der Friede immer möglich ist. Unter den Religionen bildete sich ein Klima des Dialogs und der Geschwisterlichkeit. Mit großer Klarheit haben die Religionen ihrer Instrumentalisierung für Ziele der Gewalt widersprochen.
Wir haben Seite an Seite gebetet, weil das Gebet die Wurzel des Friedens ist. Das Gebet reinigt das Herz vom Hass und bittet Gott um die Beendigung aller Kriege. Auf dieser Bühne haben sich nun Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen Religionen versammelt, wie ein Regenbogen des Friedens: Ihre Verschiedenheit hindert sie nicht an gemeinsamen Gedanken und Gefühlen der Geschwisterlichkeit und des Friedens. Vielmehr zeigt sich in ihrer Unterschiedlichkeit eine Vision des Friedens, die alle voll und ganz teilen. Dies wäre vor nicht allzu langer Zeit unmöglich gewesen.
Aus dem gemeinsamen Gebet entspringt das Wort. Die Welt dürstet nach wahren Worten, die ein Licht werfen auf die so unsichere Zukunft. Viele Länder erleben einen schlimmen Augenblick, darüber darf man nicht schweigen. Die vielen durch die Pandemie Verarmten brauchen eine Stimme und Solidarität; sie leiden schon seit langer Zeit, sie sind unter noch offenen und fast insgesamt vergessenen Kriegen bedrückt, denn heute sind wir vorwiegend auf unsere Krankheiten oder unsere Probleme konzentriert. Die Gläubigen greifen den Schmerzensschrei der Leidenden im Gebet auf, sie offenbaren das Bedürfnis nach einer neuen Zukunftsvision. Die früheren Visionen sind verloren gegangen, und es herrscht große Sorge, was die Zukunft betrifft.
Papst Franziskus, dem ich für die wegweisenden Worte in Fratelli tutti danke, hat dazu aufgerufen, die Zukunft im Licht der Geschwisterlichkeit zu suchen. Er schreibt: „Allein steht man in der Gefahr der Illusion, die einen etwas sehen lässt, das gar nicht da ist; zusammen jedoch entwickelt man Träume.“ Wie vielen Illusionen sind wir hinterhergelaufen! Dann sind sie zunichte gemacht worden: der Mythos der Wirtschaft, die im Rahmen der Vorsehung alles lösen könne, der Mythos des starken Mannes, die Illusion, eigene Vorstellungen durch Gewalt oder Krieg aufzwingen zu können, und vieles mehr.
Die Illusionen verwandeln sich in Albträume, deren schlimmster der Krieg ist, der ganze Länder im Mittelmeerraum und anderswo beherrscht. Der Krieg ist der Vater aller Armut. Seine Früchte sind auch die Flüchtlinge, die an unsere Türen anklopfen. Auch der Traum des Reicheren und Stärkeren allein für sich hat sich in einen Albtraum verwandelt, teilweise nicht nur für ihn.
Gläubige und Religionsoberhäupter haben heute Abend gemeinsam gebetet. Jetzt hören wir ihre Stimmen. Die Botschaft, die die Religionen verbreiten, während sie hier zusammenkommen, lautet, dass niemand sich allein rettet, ohne die anderen, gegen die anderen. Das gilt für Europa. Das gilt für jeden Kontinent. Das gilt auch für die einzelnen Bürger. Die religiösen Traditionen überliefern eine Botschaft mit demselben Klang: Frieden bedeutet, im Dialog gemeinsam etwas aufbauen, ohne den anderen auszuschließen oder abschätzig zu behandeln. Die Religionen leben durch den Dialog, denn ihr erstes Werk ist das Gebet, und das ist Dialog mit Gott, wie es Paul VI. sagte.
Das Sich-nicht-allein-Retten öffnet den Weg für gemeinsame Visionen und einen Traum für die Menschheit. Papst Franziskus hat geschrieben: „Träumen wir als eine einzige Menschheit, als Weggefährten vom gleichen menschlichen Fleisch, als Kinder der gleichen Erde, die uns alle beherbergt“. So träumen die Gläubigen. Sie helfen den Bedürftigen, von der Befreiung aus der Armut zu träumen. Den Kranken. Den Opfern der Kriege, angefangen bei den Kindern. Den Flüchtlingen. Denn wie Paul Ricoeur sagt: „Die Religionen haben einen Sinn: die menschliche Grundlage des Guten zum Vorschein zu bringen, und sie zu suchen, wo sie verborgen ist.“