Verehrte Podiumsteilnehmer, liebe Freunde – Schalom alejchem – Friede mit Euch!
Wozu beten wir eigentlich? Können wir denn G“ttes Willen beeinflussen? Wenn G“tt etwas bestimmt hat, ist das doch bereits eine unverrückbare Tatsache. Hat er doch allein Kraft seines Willens und Wortes die ganze Welt erschaffen: „Und G“tt sprach: Es werde Licht! Und es war Licht“. כי הוא אמר ויהי – „denn Er sprach, und es war“, rezitieren wir täglich im Morgengebet aus den Psalmen. Wenn G“tt also beispielsweise bestimmt hat, dass ein gewisser Mensch krank sein soll, was hilft es da, um dessen Gesundheit zu beten? Lässt G“tt sich etwa umstimmen, oder gar bestechen? Steht es doch bereits in der Torah, von Bileam formuliert: „Der Allmächtige ist nicht wie ein Mann, der trügt, oder ein Mensch, der bereut.“ Was wollen wir also mit unseren Gebeten bei G“tt erreichen?
Um das Wesen des Gebetes besser zu verstehen, ist auch das Zusammenwirken von G“tt und Mensch besser zu ergründen. Als Beispiel hierfür dient Moische Gross. Moische wollte unbedingt in der Lotterie gewinnen, also betete er tagtäglich mit großer Andacht und Inbrunst zu G“tt, dass Er ihn doch bitte einmal gewinnen lasse. Doch Woche um Woche vergeht, und der große Gewinn bleibt aus. Da wendet sich Moische eines Tages tief enttäuscht zu G“tt und sprach: „Lieber G“tt, fällt es Dir denn so schwer, mich wenigstens einmal die Lotterie gewinnen zu lassen?“ Darauf ertönte eine himmlische Stimme und antwortete: „Moische, kauf dir doch endlich mal ein Los!“
Das Exempel von Moische drückt etwas sehr Tiefes aus: Eigentlich möchte G“tt ja helfen, jedoch muss sich auch der Mensch selber zu helfen wissen. Von G“tt, der Quelle und dem Ursprung alles Guten, geht im Grunde genommen nur das Gute aus, die Frage ist, ob wir Menschen imstande sind, dieses in voller Fülle aufzunehmen. Der himmlische Segen kann mit Regen in dürrem Lande verglichen werden. Um diesen Segen in voller Fülle aufzunehmen, braucht es geeignete Gefäße, in richtiger Weise bereitgestellt (Beispiel Glas). Wenn es Stauseen, Zisternen, etc. gibt, kann das Wasser aufgefangen und gespeichert werden, ansonsten versickert es ungenutzt im Boden und der Segen geht verloren.
Rabbiner Awraham Jitzchak Kook, der erste Oberrabbiner Israels, formulierte diesen Gedanken in die Tiefe: Das Gebet ist nicht dazu da, G“tt zu verändern, sondern den Menschen zu verändern. Indem der Betende sich ändert, wird er imstande, den Segen, welcher für ihn vorgesehen ist, richtig aufzunehmen. Rabbi Jisrael Baal haShem tov drückte es in eigenen Worten aus: „Wenn du nach dem Gebet der selbe Mensch bist wie vor dem Gebet, wozu hast du dann gebetet?“
Das Gebet ist in Wirklichkeit viel mehr als nur der Ausdruck unserer Wünsche und Bitten, es ist ein Wegweiser, soll uns Orientierung geben, wofür es sich lohnt zu beten und sich im Leben einzusetzen, und inwiefern wir uns verändern sollen, um dies zu erreichen. Dies soll uns drei Mal täglich eine Gedankenstütze sein, um welche Werte sich unser Leben drehen soll.
So verwundert es kaum, dass das Thema Frieden in den Gebeten sehr hervorgehoben wird. Unsere Weisen sagen: Groß ist der Frieden, denn mit ihm schließen alle bedeutenden Gebete ab: das täglich dreifache Bittgebet, das Tischgebet, der Priestersegen, das Trauergebet. Ja auch der Wochenrückblick kurz bevor wir den heiligen Schabbat – Sabbattag – am Freitagabend mit dem Anstimmen des Liedes „Lecha Dodi“ empfangen, endet mit dem Wunsch nach Frieden.
Der Wunsch nach Frieden entspricht also dem inneren Verlangen, welches wir jeden Tag bei vielen Gelegenheiten oft und oft verspüren, ja uns danach sehnen sollen. Ja selbst beim bloßen Zusammentreffen auf der Straße lautet der einfache Gruß untereinander „Schalom“ – Friede, oder ausgeführt: „Schalom alejchem“, auch „Schulem alajchem“ auf Jiddisch – Friede sei mit dir/mit euch.
Gerade im Zusammentreffen mit anderen Menschen werden wir uns der tieferen Bedeutung des Friedens gewahr: die Möglichkeit völlig unterschiedlich aussehender, denkender und handelnder Geschöpfe, miteinander zu leben, zu verkehren, zu harmonieren, und sich dabei gegenseitig nicht exklusiv als Konkurrenten, sondern inklusiv als gegenseitige Bereicherung wahrzunehmen.
Der Ursprung dieser Wahrnehmung liegt in G“tt Selbst, dessen Name „Friede“ ist. So lehrt die Mischnah, ein Teil der mündlichen jüdischen Überlieferung, im Traktat Sanhedrin: „An der Erschaffung des Menschen lässt sich die Größe G“ttes erkennen. Ein König aus Fleisch und Blut, wenn er Münzen nach Vorbild einer Münze prägen lässt, dann ähneln sich diese alle. Nicht so bei G“tt: er prägte alle Menschen nach dem Vorbild des ersten Menschen (Adam), und trotzdem unterscheiden sie sich alle voneinander.“ Die Größe G“ttes zeugt also nicht von der monolithischen Anordnung der Menschheit, sondern im Gegenteil vom Pluralismus, von der Vielartigkeit und Verschiedenheit der Menschen. Diese stehen sich nämlich komplementär gegenüber, ergänzen sich gegenseitig – wenn der Mensch dies so will und sieht!
Genau diesen Ansatz fördert die Gemeinschaft von St. Egidio auf so bewundernswerte Weise, weswegen ich der Einladung seit vielen Jahren auch sehr gerne folge und an diesem gemeinsamen Ziel mitwirken möchte!
Leider befinden wir uns in einer Zeit, in welcher selbst auf europäischem Territorium diese Grundlage des menschlichen Zusammenlebens in Frage gestellt wird, mit einem unsäglichen Krieg als Folge. Seit Ausbruch dieses Krieges vergangenen Februar beten wir in vielen jüdischen Gemeinden europaweit zusätzlich für den Frieden, mit folgenden Worten des Rabbi Nachman, welche ich zum Abschluss gerne mit Ihnen teilen möchte: „Und möge ein Volk gegen ein anderes künftig nicht mehr das Schwert erheben, nur mögen alle Bewohner der Erde erkennen, dass wir nicht auf die Welt gekommen sind, um zu streiten und zu kriegen, nicht um des Hasses, Neides, Ärgers und Blutvergießens willens… Möge der Vers in Erfüllung gehen: Und Ich bringe Frieden über die Erde, sodass ihr euch schlafen legt und euch keiner aufschreckt.“
In diesem Sinne Ihnen, uns allen und allen Menschen der Welt: Schalom – Friede sei mit euch!