22 September 2024 16:30 | Palais des Congrès

Rede von Lina Hassani



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Lina Hassani

Zeugin, Afghanistan
 biografie

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren!

mein Name ist Lina Hassani und ich stehe heute vor Ihnen als 21-jähriges afghanisches Mädchen aus einer Hazara-Familie, die zwei Jahrzehnte des Konflikts und des tiegreifenden Wandels erlebt hat. Ich komme aus einem Land, das für seine drei Jahrzehnte Krieg berüchtigt ist: Ich bin über die humanitären Korridore der Gemeinschaft Sant'Egidio nach Belgien gekommen und lebe dort seit fünf Monaten; hier lerne ich die niederländische Sprache. Meine Geschichte handelt nicht nur von meinem Leben, sondern auch von unzähligen Afghanen, die unvorstellbare Entbehrungen erleiden mussten. Ich wurde in Kabul geboren, einer Stadt, die viele Erinnerungen birgt, sowohl freudige als auch leidvolle. Das Leben in Afghanistan war noch nie einfach. Im Jahr 2009 wurde uns mein Vater von den Taliban weggenommen und getötet. Aber meine Mutter hat mit unglaublicher Kraft unsere Familie unterstützt.

Ich beschloss, mein Studium fortzusetzen, da ich erkannte, dass dies der einzige Weg zu einem besseren Leben war. Wir zogen nach Dusht-e-Barchi, einem Viertel in Kabul, in dem viele Hazara- und schiitische Familien leben: eine der gefährlichsten Gegenden, die häufig von terroristischen Gruppen, insbesondere den Taliban, angegriffen wird. Als wir dort lebten, waren wir den Schrecken von Bombenanschlägen und Selbstmordattentaten ausgesetzt.

Die Gewalt war unerbittlich; ich wurde Zeugin eines Selbstmordattentats in unserer Schule, dabei kamen Kinder unter 14 Jahren ums Leben. Dort sah ich auf tragische Weise die leblosen Körper meiner Mitschüler. Dies war nur einer von vielen ganz normalen Tagen für eine Schülerin in Kabul.

Im August 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über Afghanistan und verhängten strenge Beschränkungen für Frauen. Wir durften das Haus nicht ohne einen männlichen Vormund verlassen, und Bildung war uns verwehrt. Besonders verzweifelt war die Lage für diejenigen, die mit ausländischen Organisationen zusammengearbeitet hatten, darunter auch meine Mutter. Frauen, die gegen die Taliban protestierten, riskierten Gefängnis oder sogar den Tod. Da wir uns unsicher fühlten und keine Hoffnung auf ein besseres Leben in Afghanistan hatten, flohen wir nach Pakistan. Die Situation dort war jedoch nicht viel anders: Als Flüchtlinge wurden wir als Last angesehen, ohne Rechte, ohne Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung, mit ständigen Schwierigkeiten bei der Verlängerung unserer Visa und mit dem Risiko der Abschiebung. Mehr als eine Million Menschen wurden nach Afghanistan repatriiert. Einige afghanische Flüchtlinge in Pakistan lebten unter schwierigen Bedingungen in Zelten, ohne Obdach bei einer Hitze von bis zu 40 Grad. Nach vielen Schwierigkeiten kamen wir in unserem Lager schließlich in Kontakt mit der Gemeinschaft Sant'Egidio, die als erste afghanische Flüchtlinge in Pakistan wirklich unterstützte. Sie hörten sich unsere Sorgen an und versprachen, uns zu helfen – es war ein Versprechen, das sie auch einlösten. Am 29. April 2024 machten wir uns mit der Hilfe von Sant'Egidio auf den Weg von Pakistan nach Belgien. Heute leben meine Mutter, meine Schwestern und ich in einer Wohnung auf dem Gelände einer Pfarrkirche und werden in diesem neuen Leben geliebt und begleitet.

Abschließend möchte ich all jenen von Herzen danken, die die afghanischen Flüchtlinge unterstützt und unseren Stimmen Gehör geschenkt haben. Ich wünsche mir eine Zukunft, in der in Afghanistan und überall auf der Welt Frieden herrscht. Mögen die Narben des Konflikts heilen, und möge jeder Einzelne die Kraft finden, sich Liebe, Verständnis und Einheit zu eigen zu machen. Danke, dass Sie an unser Recht auf ein Leben in Freiheit glauben. Ich bitte Sie, die afghanischen Frauen und Mädchen, die nach wie vor dringend auf Hilfe angewiesen sind, weiterhin zu unterstützen. Gemeinsam können wir dafür sorgen, dass auch sie die Möglichkeit haben, zu träumen, zu lernen und voranzukommen. Ihre Unterstützung kann ihr Leben grundlegend verändern, und gemeinsam können wir den Weg für eine gerechtere und ausgewogenere Zukunft ebnen.