23 September 2024 09:30 | Eglise Saint-Merry

Rede von Oliver Schuegraf



Teilen Auf

Oliver Schuegraf

Lutheran Bishop, Germany
 biografie
Coventry in England ist ein besonderer Ort für mich. Fast vier Jahr durfte ich dort als deutscher Lutheraner an der anglikanischen Kathedrale arbeiten.  
 
Am 14. November 1940 wurde Coventry von deutschen Bomben zerstört. Am nächsten Morgen lagen die Stadt und ihre mittelalterliche Kathedrale in Schutt und Asche. Angesichts dieses verbrecherischen Terrors – über 500 Menschen starben in dieser Nacht – wären Hass und der Wunsch nach Vergeltung eine verständliche Reaktion gewesen. Doch der damalige Propst der Kathedrale, warb für einen anderen, durchaus unpopulären Weg. Er rief zur Versöhnung und Völkerverständigung auf – auch mit dem Kriegsgegner Deutschland.
 
Diese Geste aus den Trümmern heraus, die ein monströses Kriegsverbrechen angerichtet hatte, hat mich tief geprägt und beeindruckt. Dank der Initiative mutiger Visionäre ist von Coventry ausgehend ein Versöhnungsnetz, die sogenannte Nagelkreuzgemeinschaft, entstanden, das sich weltweit für Versöhnung, Völkerverständigung und Gerechtigkeit einsetzt.
Verbindendes Gebet des Netzwerkes ist das sogenannte Versöhnungsgebet von Coventry. Der Aufbau des Gebets ist einfach. Im Zentrum steht der 7-malige Ruf „Vater vergib“. 7-mal wird Schuld bekannt und um göttliche Vergebung gebeten. So heißt es zum Beispiel:
 
Den Hass, der Nation von Nation trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse, Vater, vergib.
Unsere mangelnde Teilnahme an der Not der Gefangenen, Heimatlosen und Flüchtlinge, Vater, vergib.
Die Gier, die Frauen, Männer und Kinder entwürdigt und an Leib und Seele missbraucht, Vater, vergib.
 
Klar benennt das Gebet, dass wir schuldig werden, wann immer wir unsere Mitmenschen aus dem Blick verlieren und nur die eigenen Interessen vor Augen haben. 
 
Wie sieht hingegen ein solidarisches und friedvolles Miteinander von Menschen aus? Ein Text aus dem Neuen Testament ist hier für uns Christinnen und Christen zentral. Die Werke der Barmherzigkeit werden dort von Jesus in Erinnerung gerufen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? … Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.  (Mt 25, 37-40)
 
Wenn wir diese Werke der Barmherzigkeit erfüllen, sind wir Jesus nahe. Wenn wir Nächstenliebe und Solidarität mit den Geringsten üben, werden wir zu Jüngerinnen und Jüngern. Wenn wir in den Armen und Bedürftigen das Antlitz Christi und damit die Gegenwart Gottes sehen, dann werden wir Hunger und Durst stillen, Heimat gewähren, Nackte bekleiden, Kranke heilen und Gefangene besuchen. Bald wurde in der Alten Kirche übrigens noch die Bestattung der Toten hinzugefügt, so dass es 7 Werke der Barmherzigkeit wurden.
 
An zwei Bespielen möchte ich kurz aufzeigen, wie dies konkret aussehen kann:
Zum einen: Wie sieht Zuwendung zu den Obdachlosen aus? Mich hat die Idee einer Kollegin, die in einer Großstadtgemeinde arbeitet, beeindruckt: Sie war mit einer Gruppe von Gemeindeglieder intensiv in die Arbeit mit Obdachlosen involviert. Allen Obdachlosen, gerade den älteren, hat sie ein kleines Kreuz an einer Kette als Geschenk angeboten – und zwar mit folgendem Versprechen: Uns kennen hier die Bestattungsunternehmen in der Stadt. Wenn Ihr das Kreuz tragt und sterben solltet, dann wissen die Bestatter, dass sie mich anrufen. Ihr werden dann nicht alleine bestattet, sondern Mitglieder der Gemeinde werden da sein und daran erinnern, dass Gott auch euch bei eurer Taufe bei eurem Namen gerufen hat. 
 
Eine zweite Frage: Die Frage nach Migration erhitzt die Gemüter in den europäischen Gesellschaften. Die Solidarität mit Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten kippt – selbst in der Mitte der Gesellschaft. Viele haben das Gefühl, dass wir irreguläre Migration anders – strikter – ordnen müssen. Aber wie begegnen wir den Flüchtlingen und Migranten, die bereits bei uns sind? Es lohnt sich ein Blick in das Erste Testament. In Levitikus 19, 33f ist zu lesen: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch.“ Es ist ein Akt der Solidarität, Migrantinnen und Migranten in die Rechtkultur der Gesellschaft vor Ort hineinzunehmen: sie haben dieselben Rechte, müssen sich aber auch an dieselben Rechte halten. 
Deshalb müssen wir besser werden, Anerkennungsverfahren so zu gestalten, wie auch ich es erwarte, von Behörden behandelt zu werden. Wir müssen besser werden, Menschen, die durch Migration zu uns kommen, etwas zu trauen und ihnen Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu geben.
Andererseits gilt aber auch: Kommen Menschen ins Land, die unsere freiheitlich-demokratische Ordnung durch Terroranschläge erschüttern wollen, müssen sie erfahren, dass wir eine wehrhafte Rechtsordnung haben, die auch für sie gilt. Auch das gehört zu einem solidarischen Zusammenleben. Reflexhaft die Aushöhlung des Asyl- und Aufenthaltsrechts zu fordern, bekämpft hingegen nicht die Ursachen des Terrors, sondern stellt Menschen, die bei uns Schutz gefunden haben, unter Generalverdacht. Das schafft nicht mehr Sicherheit, sondern gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. 
Zum Schluss komme ich nochmals auf Coventry zurück. In Coventry war man sich von Anfang an bewusst, dass Friede, Völkerverständigung und Versöhnung ehemaliger Kriegsgegner einerseits und eine solidarische Gesellschaft andererseits zusammengehören. Sie bedingen einander. Deshalb beginnt das Versöhnungsgebet von Coventry mit der Zeile: Den Hass, der Nation von Nation trennt, Volk von Volk, Vater, vergib.
Wo Krieg zwischen den Nationen herrscht, haben Menschen schnell ein zerstörtes Zuhause, werden zu Flüchtlingen. Die Bevölkerung leidet unter Armut, Hunger und Krankheiten, Familien können ihre Toten nicht würdig begraben. Flüchtlinge, die weit weg von zuhause einen sicheren Ort suchen, werden dort allerhöchst wahrscheinlich auch in Armut leben. Sie brauchen Unterstützung und Solidarität im neuen Land.
 
Wo Rassismus Raum gegeben wird, bestreiten wir den Wert und die Würde anderer Menschen oder Gruppen. Rassismus kann zum Motor von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Staaten werden aber auch zu gewalttätigen Spannungen innerhalb von Gesellschaften führen. Meist sind es dann gerade die Ärmsten einer Gesellschaft, die davon betroffen sind.
Es ist beschämend, dass Parteien mit rassistischen Über¬zeugungen in Deutschland und vielen Staaten Europas massiv auf den Vormarsch sind. Es ist aber auch beschämend, dass wir Kirchen es nicht schaffen, deutlich zu machen, dass rassistische Positionen gegen die von Gott gegebene Würde eines jeden Menschen verstoßen und Parteien, die Rassismus propagieren, deshalb für Christinnen und Christen nicht wählbar sind.
 
Oder wählen Menschen solche Parteien vor allem aus Protest, weil sie das Gefühl haben, dass sie abgehängt sind, dass der Staat für sie nicht da ist bei der Bewältigung der alltäglichen Probleme? 
Wenn dem so ist, dann ist es umso wichtiger, dass wir uns für eine solidarische Gesellschaft einsetzen und Werke der Barmherzigkeit üben. Abgehängte, Bedürftige und Arme haben ein Recht darauf, dass Staat und Kirche sie im Blick haben und daran arbeiten, prekäre Lebensverhältnisse zu verändern. 
 
Der Einsatz für eine solidarische und barmherzige Gesellschaft ist ein Beitrag für eine Welt, in der Menschen innerhalb eines Staates miteinander in Frieden leben. Und Staaten, in denen Menschen friedvoll, achtsam und solidarisch miteinander umgehen, werden auch mit anderen Völkern und Nationen friedvoll und versöhnt leben wollen. Friede wird die Zahl der Binnenvertriebenen und Migranten und damit auch die Notlage der Armen verringern.
Kurzum: Wir sind dazu berufen, uns für eine solidarische, friedvolle und versöhnte Welt einzusetzen. Wo uns dies nicht gelingt, beten wir: Vater vergib.