I.
„Die Seele Europas gleicht heute einer ausgebrannten Kraterlandschaft. Die Vulkane sind erloschen. Die Feuer der Begeisterung sind ausgebrannt. Dunkle Asche liegt auf allem Lebendigen. Skepsis und Melancholie breiten sich aus und lassen Europa grau und alt aussehen. Wir haben die Orientierung verloren. Die großen Leidenschaften für eine bessere Zukunft sind gebrochen. Wir trauen uns nichts Großes mehr zu …“ (Zeitzeichen 7/2005, S. 20).
Diese Worte sind zwanzig Jahre alt. Geschrieben hat sie der große deutsche Theologe der Hoffnung, Jürgen Moltmann, der am 3. Juni 2024, im Alter von 98 Jahren verstorben ist. Ich habe ihm viel zu verdanken.
Für mich ist diese kritische Analyse der Lage Europas sehr schmerzlich – für mich, als jemand, der neun Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geboren wurde, und der in Bonn, Paris und Brüssel aufgewachsen ist mit der Idee, dass es die Aufgabe meiner Generation ist, sich für ein versöhntes Europa einzusetzen.
II.
Inzwischen ist die Zeit rauer geworden. In Deutschland reden wir von einer epochalen „Zeitenwende“. Ein einflussreicher Denker in Deutschland, der Historiker Herfried Münkler, hat im vergangenen Jahr ein Buch vorgelegt, das den Titel trägt: „Welt in Aufruhr“. Es ist in nur einem Jahr bereits in 10. Auflage erschienen. Er interpretiert die „Zeitenwende“ so, dass grundlegende Hoffnungen und Ideale an ihr Ende gekommen seien: Die Vorstellung, dass Verträge und wirtschaftliche Zusammenarbeit ein friedliches Zusammenleben der Völker ermöglichen, sei geschwächt; der Gedanke der Völkergemeinschaft, die in der UNO gemeinsam nach weltweiten Wegen der Problemlösungen sucht, fehle die Autorität; die Glaubwürdigkeit der universalen Menschrechte sei angegriffen, da sich in vielen Konflikten der jüngeren Vergangenheit gezeigt habe, wie interessengeleitet die Berufung auf diese Werte eingesetzt wird. Wir gehen, so seine These, auf eine Zeit zu, in der fünf politische Zentren sich die geopolitische Macht teilen werden: China und USA, Russland und Indien und vielleicht auch Europa. Das aber sei unsicher, weil unklar sei, ob Europa es schafft, sich weiter zu vereinen und sich als wirtschaftlich und militärisch starker geopolitischer Player zu etablieren.
Als Christ kann ich seine These teilen, dass zurzeit große Visionen und Ideale infrage gestellt sind. Aber nur als aktuelle Analyse, nicht als normative These. Die biblischen Traditionen verpflichten mich, weiter daran zu glauben und dafür zu arbeiten, dass Friedensvisionen Realität werden, dass Gerechtigkeit durch verbindliches Recht entwickelt wird, dass Verträge geschlossen und gehalten werden, um Konflikte einvernehmlich zu lösen, dass die Menschenwürde und die Menschenrechte geachtet werden. Besonders wichtig für mich als gläubiger Mensch ist es, dass die unterschiedlichen Religionen sich zur gleichen Würde aller Menschen bekennen und sich für Frieden einsetzen. Die Erklärung von Abu Dhabi „Human fraternity“ – 2019 von Papst Franziskus und Großimam Al Tayeb unterzeichnet – war ein wichtiger interreligiöser und interkultureller Schritt, um eine gemeinsame Grundlage für die Würde und die Rechte der Menschen zu finden.
Ja, Europa und die Geopolitik sind in einer Krise. Aber eine Krise darf nicht dazu führen, die Ideale aufzugeben. Sie muss vielmehr dazu führen, sich neu auf die grundlegenden Werte zu besinnen.
III.
Jürgen Moltmann, dessen geradezu poetischen Text ich eingangs zitiert habe, ist nicht bei der besorgten Krisen-Analyse stehen geblieben. Er hat schon vor 20 Jahren daran erinnert, dass Europa in seiner Geschichte immer wieder neu ein „Kontinent der Hoffnung“ war, durch Revolutionen, Reformationen, Renaissancen hindurch. Europa lebt von Traditionen unerfüllter Hoffnungen, die ihre Zukunft noch vor sich haben. Große Ideen und tragisches Scheitern gehören dazu: Erst war es die Idee eines christlichen Abendlandes, später eines humanistischen Europas. Zu den europäischen Visionen gehört die Vision eines Immanuel Kants, der die Völker zu einer friedlichen Weltgemeinschaft führen wollte. All diese großen Ideen wurden in den Weltkriegen und Totalitarismen des 20. Jahrhunderts verraten. Aber dann entstand das Leitbild eines versöhnten und vereinten Europa im Geist der Menschenrechte und gelebter Solidarität. Dieses Leitbild ist nun in die Krise geraten. Aber das, so Jürgen Moltmann, sollte uns motivieren, neu nach den Quellen zu fragen, die Europa immer wieder Hoffnung geschenkt haben.
Die Quellen der Hoffnung sieht er in der jüdisch-christlichen Tradition, die den Glauben an Gott immer mit realen menschlichen Hoffnungen verbunden hat: der Glaube an Gott führte Israel heraus aus der Gefangenschaft in Ägypten. Der Glaube an den auferstandenen Christus blieb nicht nur eine Idee, sondern ließ eine Gemeinde entstehen, die die Nächstenliebe lebte. „Der europäische Geist“, so schreibt Jürgen Moltmann, „hat sich in Zustimmung und Widerspruch, im Glauben und Unglauben, in Hochmut und Verzweiflung an diesem göttlichen Geheimnis der Hoffnung ausgebildet … Aus diesem Geist der Hoffnung“, davon ist Moltmann überzeugt, „wird Europa von neuem geboren werden und seine Gestalt für die Welt finden.“
IV.
Wird Europa tatsächlich in Zukunft seine neue Gestalt für die Welt finden? Ich bin kein Prophet. Ich kann nur sagen, dass viele gläubige Menschen in den Kirchen Europas weiterhin für dieses Friedensprojekt leben, arbeiten und beten. Der biblische Glaube gibt Verheißungen nicht auf, wenn sie in eine Krise geraten. Meine feste Überzeugung ist, dass Christen festhalten müssen an den biblisch fundierten Friedensvisionen, die sich in der säkular-politischen Welt als das Bemühen um einen durch Verträge organisierten Völkerfrieden realisieren müssen.
In der aktuellen politischen Diskussion in meinem Land wird die epochale „Zeitenwende“ so verstanden, dass Europa sich als politische, als wirtschaftliche, ja auch als militärische Macht finden muss, um seine geopolitische Rolle zu finden. Als Christ kann ich nur sagen: Europa hat auch eine Seele! Um seine Seele zu bewahren, muss Europa an seinen Grundwerten festhalten, vergangene Schuld aufarbeiten und weiter nach versöhnter Einheit suchen.
Geopolitische Denker mögen zu Recht sagen: Europa muss seine politische, wirtschaftliche und militärische Rolle neu definieren. Aber Christen müssen betonen: Europa muss vor allem seine Seele bewahren! Es muss aus dem Geist der Hoffnung neu geboren werden! Europa darf nicht aufhören, nach neuen Ideen der Versöhnung und des Friedens zu suchen, um diese Ideen in das Gespräch zwischen Kulturen, Religionen und Nationen einzubringen!