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Jaron Engelmayer

Oberrabbiner von Wien, Österreich
 biografie
Letzte Woche hat ein Rabbiner eine Anleitung über YouTube gegeben, wie sich Rabbiner ihre Reden per künstlicher Intelligenz zusammenstellen können. Mit Begeisterung erklärte er, wie sich Rabbiner so viele Stunden Arbeit ersparen können. Mit weniger Begeisterung habe ich seine Worte aufgenommen: werden auch die Rabbiner, wie viele andere auch, schon bald zu den Berufen gehören, welche durch künstliche Intelligenz ersetzt werden können? Wird es künftig nur noch jemanden brauchen, welcher die Reden vom Blatt ablesen kann? Aber eigentlich wird auch dieser Teil von künstlicher Intelligenz ersetzt werden können? Im Grunde genommen lassen sich auch die Zuhörer durch künstliche Intelligenz ersetzen, also können künftig Roboter Robotern zuhören und die Menschen zu Hausen bleiben? Zunächst darf ich Ihnen versichern, dass ich diesen Beitrag selber geschrieben habe, ohne Anwendung künstlicher Intelligenz, hoffentlich aber mit menschlicher Intelligenz. Zur Übersetzung des Beitrages vom Deutschen ins Englische war mir die künstliche Intelligenz jedoch von großer Hilfe. Vor einigen Jahren wäre eine solche Übersetzung noch völlig unverständlich und irreführend gewesen, heute jedoch funktioniert sie bereits so gut wie einwandfrei. Das Thema künstliche Intelligenz mag uns sehr einschüchtern und zeugt von der sich dramatisch schneller verwandelnden Welt. Ich zähle noch zur Generation, welche ohne Internet und mobilen Telefonen aufgewachsen ist, eine Art Fossil, von wem die Kinder wissen wollen, wie wir in unserer Kindheit eigentlich ohne Handy ins Internet gekommen sind. Schon seit vielen Jahren stehen wir diesen rasanten einschneidenden Veränderungen gegenüber und versuchen uns zu adaptieren. Jedoch gleichzeitig der jüdischen Religion angehörend, welche schon seit über 3000 Jahren existiert und den vielen Veränderungen nicht nur standgehalten hat, sondern viele von ihnen wesentlich mitbestimmt hat, möchte ich hieraus den Blick auf die Chancen und Gefahren der künstlichen Intelligenz wagen. 
 
Gute Entwicklung? Die theologische Sicht 
 
Das Judentum steht wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen von Grund auf positiv gegenüber und befürwortet sie. So ist das letzte Wort in der Schöpfungsgeschichte: „La´assot“ – „zu tun“ – G“tt hat die Welt erschaffen, um in ihr tätig zu sein. Darauf sagen unsere Weisen im Midrasch, dass der Mensch von G“tt den Auftrag hat, die Schöpfung weiter zu entwickeln, und damit Partner G“ttes in ihr zu werden. So spricht auch der Prophet Jesajah (45, 18) „Nicht um eine Einöde zu sein hat G"tt die Welt erschaffen, sondern um sie zu besiedeln“. 
 
Dafür steht die Idee des Schabbats, des Sabbat Tages. An einem Tag, von Freitagabend bis Samstagabend, sollen wir keine Werktätigkeiten verrichten, also keine kreativen Tätigkeiten ausüben, welche die Welt verändern. 
 
Als einst ein jüdischer Vater einer heiratsfähigen Tochter einen jungen Mann prüfte, ob er als Ehemann für seine Tochter in Frage komme, wollte er von ihm wissen: „Wirst du auch sicher am Schabbat nicht arbeiten?“ Der Schwiegersohn in spe antwortete: „Sir, wenn Sie es wünschen, werde ich auch an allen Tagen der Woche nicht arbeiten.“ 
 
Das ist natürlich nicht die Idee von Schabbat, ganz im Gegenteil. Die Torah sagt: „Sechs Tage sollst du arbeiten, und am siebten ruhen.“ Teil von der Idee des Schabbats ist es, an sechs Tagen in der Woche die Welt weiter zu entwickeln und zu verändern. Mit Hilfe technologischer Entwicklung kann der Mensch entlastet werden, ein Traktor kann das Werk vieler Menschenkräfte verrichten, was mitunter geholfen hat, die Landwirtschaft weiter aufrecht zu erhalten, ohne sich einen ganzen Hof an Dienern und Sklaven halten zu müssen. Die Anzahl Menschenleben, welche im Gesundheitswesen heutzutage dank künstlicher Intelligenz gerettet werden können, ist kaum noch zu zählen.
 
Nur mit der technologischen Entwicklung können wir die messianische Hoffnung Jesajas (11, 9) erreichen, dass die Welt mit Wissen gefüllt werde, der Erkenntnis G“ttes, welche alle Geheimnisse der Schöpfung beinhaltet. Dieser Vision, bis kürzlich höchstens eine Utopie, sind wir mit den Möglichkeiten des Internets und der rasanten Verbreitung von Wissen heute schon wesentlich nähergekommen.
 
Gefahren  
 
Mit der Entwicklung kommen aber auch Gefahren. Zu Dr. Karpel Lippe, einem bekannten Arzt im 19. Jahrhundert, kam einmal einer seiner Patienten und berichtete stolz: "Herr Doktor, ich werde Sie nun nicht mehr aufsuchen müssen. Der Lehrer unseres Kindes hat ein Medizinbuch gekauft, in welchem alle Krankheiten und deren Heilung beschrieben sind." Dr. Lippe antwortete gelassen: "Achten Sie bloß darauf, nicht an einem Druckfehler zu sterben."  
 
Heute trifft diese Gefahr noch viel mehr zu. Unwissen, Halbwahrheiten und fake news verbreiten sich heutzutage unkontrolliert, Wissen und Informationen sind leider in den sozialen und offiziellen Medien nicht geschützt und ungenügend reguliert. Dies hat gefährliche Folgen, vor allem durch den Effekt der Massenverbreitung. Die Algorithmen der sozialen Medien polarisieren, denn sie bewirken, dass die Nutzer stets von ähnlichen Informationen gespiesen werden und sich ihre Ansichten dadurch einseitig verhärten, anstatt kritisch zu hinterfragen und einen Sachverhalt komplex zu betrachten. 
 
Künstliche Intelligenz besitzt nach wie vor Teile nicht alle Seiten menschlicher Qualitäten, wie Empathie, Mitleid, Liebe, Fürsorge und weitere Vorzüge der emotionalen Intelligenz. Wenn sie also Menschen ersetzen soll, gehen diese bedeutsamen Komponenten verloren. Oder mit anderen Worten ausgedrückt: Noch gibt es keinen QR Code für Wertschätzung.  
 
Künstliche Intelligenz besitzt viel Macht und könnte zu Größenwahn führen. Als die Menschheit einen großen Schritt in ihrer Entwicklung machte und aus Lehm Ziegelsteine herstellen konnte, berichtet die Torah, dass sie in ihrer Vermessenheit den Turm von Babel errichteten. Nach manchen Kommentatoren war dieser gedacht, um alle Menschen von oben kontrollieren und in eine Einheit zwingen zu können. Deshalb fand G"tt das Unternehmen nicht gut, zerstreute alle auf der Erde und teilte sie in viele Sprachen auf - um die Vielfalt, Ehrfurcht und Bescheidenheit zu erhalten.  
 
Künstliche Intelligenz besitzt auch nicht die Fähigkeit der Willensfreiheit: die Möglichkeit, zwischen gut und schlecht nach menschlichen Maßstäben zu unterscheiden.  
 
Lösungsansätze und Empfehlungen 
 
Eine der Probleme unserer Zeit ist das Tempo dieser Entwicklungen. Sie überholen uns, die Gefahrenregulierung kann mit den neuen Möglichkeiten nicht immer Schritt halten, was gefährliche Auswirkungen mit sich bringen kann. Es müsste vielleicht mehr Zeit und Ressourcen in die Ethik und Regeln der Anwendungen von KI investiert werden, und vor allem auch klarere international geltende Strukturen und Grenzen geschaffen werden.  
 
Der Faktor Mensch darf nicht ausgeklammert werden, die KI kann den Menschen unterstützen, soll und darf ihn aber nicht ersetzen. 
 
Bei Nutzung der Fortschritte braucht es auch stets enormen Respekt, vor der Schöpfung, dem Mitmenschen und dem Schöpfer. Diese Idee kommt wiederum am Schabbat zum Ausdruck, an welchem die Welt einen Tag lang ruht und nicht verändert werden soll. Dies ist ein Zeichen des Respekts und des In sich Gehens, wie sich die Entwicklungen der vergangenen Woche und allgemein gestalten: konstruktiv oder destruktiv?  
 
Abschließend kann ich beruhigt konstatieren: die Reden für den Rabbiner, welche die künstliche Intelligenz herstellt, sind noch nicht so ausgereift wie das menschliche Werk. Außerdem wird die KI vermutlich noch lange nicht im Stande sein, die Religionsvertreter auf einem bestimmten Gebiet zu ersetzen: auch die Herzen der Menschen zu erreichen.