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Angela Kunze-Beiküfner

Studierendenpfarrerin in Magdeburg, Deutschland
 biografie
Sehr verehrte Anwesende! Es ist sehr bewegend für mich, heute hier zu sein. Herzlichen Dank für die Einladung.
 
Ich möchte zum Thema, wie Gebet den Hass überwinden kann, aus meiner persönlichen Erfahrung berichten – ich denke, dass das anschaulicher ist als theoretische Überlegungen. Vor 35 Jahren, im Herbst 1989, lebte ich in der ehemaligen DDR, in Ostberlin. Ich war damals freischaffende Artistin und habe nebenbei Gebetstreffen in den verschiedenen osteuropäischen Ländern für die Gemeinschaft von Taize vorbereitet. Unter dem Deckmantel einer reisenden Artistin war ich in Rumänien, Tschechien, Slowakei, Ungarn und der damaligen Sowjetunion unterwegs, besuchte Christinnen und Christen verschiedener Konfessionen, die ihren Glauben oft nur im verborgenen leben konnten und schon, wenn sie mich aufnahmen, gegen die Gesetze ihres Landes verstießen, was besonders in Rumänien und der Sowjetunion hart bestraft wurde. Es gab christliche Communitäten und Ordensgemeinschaften, Priester und Pastoren, die ihre Berufung im Verborgenen lebten, manche von ihnen hatten sehr viele Jahre im Gefängnis gesessen. Besonders in Rumänien war die Situation sehr schwer. Der Diktator Nicolae Ceaușescu unterdrückte die Bevölkerung mit brutalen Mitteln, Kontakte zu Ausländern waren verboten, und Kontakte zwischen den im Land lebenden verschiedenen Nationalitäten – in Rumänien leben neben den orthodoxen Rumänen auch deutschsprachige Katholiken und Protestanten und ungarischsprachige Katholiken und Reformierte – waren nicht erwünscht. Die Geheimpolizei sorgte unter den Menschen für großes Misstrauen, Gerüchte über die jeweils anderen wurden gezielt gestreut, um Vorurteile und Hass zu schüren. So war das Volk leichter zu kontrollieren. So gab es z.B. in Bucarest eine Straße, in der vier verschiedene Kirchen nah beieinander standen: Eine rumänisch-orthodoxe Kirche, eine evangelische Kirche für deutschsprachige Rumänen, eine katholische Kirche für verschiedene Nationalitäten und eine ungarisch-reformierte Kirche. Doch untereinander gab es echten keinen Austausch – jeder hatte vor den anderen Angst, weil sie dachten, diese könnten für die Geheimpolizei arbeiten. Mitte der 1980er Jahre war ich zusammen mit einer jungen Frau aus den Niederlanden für mehrere Wochen in Rumänien unterwegs, um dort Christinnen und Christen zu besuchen, und damit ihre Isolation aufzubrechen. Unsere Treffen und Gebete fanden oft heimlich statt, im Anschluss an die Gottesdienste oder in Verstecken – doch immer in getrennten Gruppen.
 
In einer kleinen Stadt fanden wir eine sehr mutige und lebendige evangelische Gemeinde vor. Sie wollten während der Zeit unseres Besuchs jeden Abend zu einem Taizegebet in den Keller des Gemeindehauses einladen. Am ersten Abend waren nur deutschsprachige evangelische Teilnehmer da. Nach dem Gebet sprachen wir darüber, wie schön es wäre, wenn wie in Taize verschiedene Konfessionen teilnehmen könnten und die Lesungen und Gebete in verschiedenen Sprachen wären. Und so begannen einige, ihre Nachbarn einzuladen. Am zweiten Tag kamen ungarisch sprachigen Reformierten dazu und am dritten Tag katholische Christen der deutschen und ungarischen Minderheit. Man musste immer vorsichtig, heimlich und einzeln Kommen und Gehen, damit die Geheimpolizei keinen Verdacht schöpfen konnte, und trotzdem kamen immer mehr Menschen. Nach dem Gebet saßen wir immer noch lange zusammen, um uns kennenzulernen – obwohl sich viele vom Sehen kannten, hatten sie bis dahin kaum miteinander geredet. Wir fragten dann, ob wir beim nächsten Gebet auch rumänisch-orthodoxe Christen eingeladen werden könnten. Denn es war ja schade, dass wir in bei einem Gebet in Rumänien keine Menschen dabei hatten, die rumänisch als Muttersprache sprachen. Da reagierten viele abwehrend. Das Misstrauen war zu groß. Doch dann geschah am letzten Tag unseres Besuchs doch eine Überraschung: Zum ersten Mal kamen auch rumänisch-orthodoxe Christen dazu! Das Gebet dauerte an diesem Abend besonders lange, aber trotzdem blieben hinterher noch alle zusammen und kamen miteinander ins Gespräch und stellten einander viele Fragen. Obwohl die Geheimpolizei am nächsten Tag nach unserer Abreise die Familie verhörte, bei der wir übernachtet hatten, blieben von diesem Gebet doch nachhaltige Beziehungen bestehen und es entwickelten sich sogar Freundschaften, wie mir später berichtet wurde.
 
Am eindrücklichsten habe ich aber die Kraft des Gebets im Oktober 1989 in der Gethsemanekirche in Ostberlin erlebt. Ich habe davon im letzten Jahr zum Abschluss des Weltfriedenstreffens von St Egidio vor dem Brandenburer Tor erzählt. In der Gethsemanekirche, die mitten in einem sehr dicht besiedelten Wohngebiet steht, gab es ab dem 3. Oktober jeden Abend Friedensgebete und eine Mahnwache für die vielen politischen Inhaftierten. Die Situation in unserem Land verschärfte sich damals immer mehr. Tausende Menschen versuchten, über die ungarische Grenze oder die deutsche Botschaft in Prag zu flüchten. Den Reformbemühungen von Gorbatschow hatte Honecker eine klare Absage erteilt. 
 
Am 4. Oktober begann ich zusätzlich eine Fastenaktion als ein konkretes Angebot zum gewaltfreien Widerstand. Für mich veränderte diese Entscheidung mein Leben. Von da an saß ich Tag und Nacht in der nun ständig offenen Kirche, fastend und betend. Ich durfte die Kirche nicht mehr verlassen, dann wäre ich sofort verhaftet worden.  Zwei Tage fastete ich allein, dann haben sich viele Menschen der Fastenaktion angeschlossen. Unterstützt wurde ich von Anfang an von der Taizegebetsgruppe. Wir sangen Taizelieder und beteten Psalmen. Tag und Nacht kamen Menschen in die Kirche, suchte das Gespräch, Schutz oder Stille. Jeden Abend um 18:00 kamen Hunderte zu dem Friedensgebet. Es wurden täglich mehr. Viele waren zum ersten Mal in ihrem Leben in einer Kirche. Immer wenn Unruhe aufkam, trat ich an das Mikrophon und begann, mit den Leuten den Kanon „Dona nobis pacem“ zu singen. Am 7. und 8. Oktober wurden dann hunderte Menschen nach dem Gebet festgenommen und von Armeelastwagen weggefahren. Niemand wusste zunächst, wo sie sind und was mit ihnen passiert. Das war erschütternd!
 
Am Montag, dem 9. Oktober waren wir daher besonders angespannt. Schon lange vor dem Friedensgebet war die Kirche überfüllt. Sobald das Gebet um 18:00 begann, wurde die Kirche von außen von der Polizei und der Armee abgeriegelt, Scharfschützen auf den Hausdächern. Wir rechneten mit dem Schlimmsten. Wir sangen und beteten und hofften. Und dann hörten wir aus Leipzig: Tausende Menschen demonstrieren nach dem Montagsgebet in der Innenstadt und die Polizei und Armee greift nicht ein! Wir öffneten die Türen der Gethsemanekirche und sahen: Die Wasserwerfer und Armeelastwagen fuhren weg, die Polizei zog sich zurück. Das war unbegreiflich! Singend und mit Kerzen in der Hand gingen wir vor die Kirche auf die Straße und Unzählige Menschen aus den Häusern rings herum schlossen sich uns an. Von da an gab es kein Halten mehr. Jeden Abend kamen mehr Menschen in die Kirche und gingen im Anschluss auf die Straße. 
 
Einen Monat später am 9. November fiel die Mauer. Aber der Entscheidende Tag war der 9. Oktober: Es war wie ein Wunder, dass es nicht zu einem Blutvergießen gekommen ist. Ein führender DDR-Politiker sagte im Nachhinein: Wir haben mit allem gerechnet, wir waren auf alles vorbereitet, aber nicht mit Kerzen und Gebeten. Natürlich spielten viele Faktoren eine Rolle, doch die Gewaltfreiheit der Protestierenden war entscheidend. Die Gebete haben maßgeblich zur Gewaltfreiheit der Proteste beigetragen. 
 
Die letzte Erfahrung, von der ich erzählen will, habe ich im Juni diesen Jahres gemacht. Ich lebe immer noch im Osten Deutschlands, wo jetzt die rechtsextreme, fremdenfeindliche AfD bis zu 30% Zustimmung aus der Bevölkerung erhält. In Magdeburg sind von den ca. 20.000 Studierenden der Hochschulen ca. 1/3 internationale Studierende – und in der Woche vor der Kommunalwahl haben wir zum ersten Mal auf dem Hochschulgelände eine interreligiöse Andacht mit Studierenden aus 7 verschiedenen Religionen und mit Christen aus 4 Konfessionen gehalten. Die Studierenden lasen Texte aus ihren Religionen und beteten in ihren Sprachen. Es war ein sehr bewegendes Zeichen für ein friedliches Zusammenleben, gerade auch vor dem Hintergrund des Krieges im Gaza, und es beim Zuhören der in fremden Sprachen von den Studiereden gesungenen Gebete war ich tief berührt, das Gebet hat uns großen Mut gemacht. 
 
Ich glaube, dass Gebete auf viele Weise wirken können. Sie öffnen uns für Gott, für unsere Mitmenschen und für uns selbst. Sie können uns persönlich befreien von Ungeduld und Unfrieden, sie können uns mit anderen Menschen verbinden und Kraft geben, gewaltlosen Widerstand zu leisten und sie können, wenn viele verschiedene Menschen öffentlich gemeinsam beten, auch ein starkes Zeichen in die Gesellschaf hinein sein.