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Andrea Riccardi

Historiker, Gründer der Gemeinschaft Sant'Egidio
 biografie

Dass verschiedene Frauen und Männer verschiedener Religionen in Rom zusammen kommen, ist weder ein Ritus noch Folklore. Für mich ist es eine mutige Geste, vor allem wenn man die Lage und die Krisen in einigen Herkunftsländern unserer Teilnehmer bedenkt. Es ist ein Zeichen von Interesse und Offenheit für den Mitmenschen über die Grenzen einer einzelnen Gemeinschaft hinweg – so groß sie auch sein mag und trotz mancher Selbstbezogenheit und Beschränkung auf eigene Freuden und Leiden. Diese Lebenswelten sind das Ergebnis alter Glaubenstraditionen und der Mutterschoß für den Glauben von Millionen von Menschen. Sie sind wertvolle Ressourcen in Gesellschaften, die oft arm an Hoffnung sind. Die Gläubigen müssen den Mut aufbringen, über ihre Grenzen hinauszublicken: Dabei sollen sie nicht die eigenen Wurzeln hinter sich lassen, sondern ihnen treu bleiben im spirituellen Abenteuer der Begegnung mit dem anderen. Papst Franziskus würde sagen: Es geht um den Mut, auf die Straße hinauszugehen.

Auf den Straßen einer globalen Welt begegnen sich Völker, deren Glaube, Geschichte und Identität sich unterscheiden.

Das Zusammenleben verschiedener Menschen ist nicht einfach, manchmal ist es kompliziert oder wird zum Konflikt. Wenn der andere draußen bleibt, am Rand meines Blickfelds, ist das gefährlich, denn er läuft Gefahr, auf die Seite meiner Feinde zu geraten. Sicherlich ist dies eine spirituell ungesunde Situation. Martin Luther King hatte das verstanden, als er sagte, dass der andere ein religiöses Problem ist: „Ich habe meine Seele gesucht, aber ich habe sie nicht gesehen; ich habe meinen Gott gesucht, aber er ist mir entwichen; ich habe meinen Bruder gesucht und alle drei gefunden.“

Wenn man sich mit dem anderen verbrüdert, findet man, so sagt es King, die eigene Seele und Gott. Der andere, der sich unterscheidet, ist nicht nur ein politisches oder soziales Problem, sondern eine große spirituelle Anfrage. Es gibt eine große spirituelle Frage in der globalen Welt, die zu oft nicht gestellt wird, wenn sich verschiedene Völker begegnen und zusammen leben: Wie soll man mit dem anderen zusammen leben? Gibt es gegenseitige Wertschätzung und Hochachtung?  Oder tauscht man nur Waren aus? Gibt es ein Gespür für die spirituellen Schwingungen im Glaubensleben der anderen? 

Durch die Globalisierung hat sich der Horizont unglaublich erweitert. Diese Erweiterung hinterfragt die Religionen. Wenn das Wort „Religion“ ethymologisch vom Wort „verbinden“ herzuleiten ist, dann ist das Gegenteil von Religion nicht Unglaube, sondern Einsamkeit. Die Ungebundenheit  von Gläubigen entwickelt sich zur Blindheit und auch zum Geiz, denn man stellt den anderen die eigenen spirituellen und menschlichen Ressourcen nicht zur Verfügung, die im Schoß einer Religion gereift sind. Was die Faulheit betrifft, meinen manchmal diejenigen, die eine lange Geschichte hinter sich haben, ein Recht auf Faulheit in der Geschichte von heute zu haben.

Der Rabbiner Jonathan Sacks schreibt: „Die Probe für den Glauben liegt darin, zu verstehen, ob ich in der Lage bin, dem Unterschied Raum zu geben: Kann ich im anderen das Abbild Gottes erkennen, wenn er nicht meinem Bild entspricht, wenn seine Sprache, sein Glaube, seine Ideale sich von meinen unterscheiden? Wenn ich das nicht kann, habe ich Gott zu meinem Abbild gemacht…“. Der Geist von Assisi ist nicht Relativismus, der die Religionen gleich macht. Die Religionen sind unweigerlich verschieden. Doch der Unterschied führt nicht unausweichlich zum Konflikt oder zur faulen und gefährlichen Ignoranz.

Als Johannes Paul II. 1986 die Religionsoberhäupter auf den Hügel von Assisi einlud, spürte er mit tiefgründiger Intuition – mitten im Kalten Krieg – die Friedenskraft der Religionen. Deshalb wollte er eine neue Epoche einleiten und sagte: Wir wollen nicht mehr gegeneinander beten, sondern nebeneinander. Er wollte, dass dieser Weg weitergeht, nicht um ein bewegendes, aber lang zurückliegendes Ereignis zu feiern. Es gab neue Herausforderungen für die Religionen, die sie drängten, Freunde zu werden und für den Frieden und die Veränderung der Welt zu kämpfen.

Von Assisi 1986 bis heute, während die Globalisierung zunahm und Konflikte zwischen den Kulturen und Religionen stattfanden, haben wir diesen Weg fortgesetzt. Wir sind immer mehr davon überzeugt, dass die Religionen eine demütige Kraft besitzen. Pietro Rossano sagte: „Jede Religion neigt zum Frieden, wenn sie das Beste von sich zum Ausdruck bringt.“ Die Religionen spielen in der heutigen Geschichte wieder eine wichtigere Rolle als früher. Häufig wurden sie jedoch vom gefährlichen Spiel der Dramatisierung und Sakralisierung der Unterschiede vereinnahmt.

Das Dramatisieren ist sehr gefährlich für unsere Länder, auch wenn es sich im Wahlkampf zu lohnen scheint. In einigen unserer Länder (manchmal leider auch in meinem) ist das eigentliche Drama, dass die wahren Dramen des Lebens und die Dramen in der großen Welt nicht ernst genommen werden. Unser Drama wird zum flüchtigen Theater der Dramatisierung und nutzlosen Streitereien. Dieses Drama macht aus einigen Ländern Kreisel, die sich um sich selbst drehen und rückwärts bewegen. Ich freue mich, an dieser Stelle den italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta zu begrüßen, der in wenigen Monaten Regierungszeit gezeigt hat, das der Sinn der Politik konkret darin besteht, Verantwortung zu übernehmen.

Leider ist die Dramatisierung der Unterschiede in etlichen Teilen der Welt wirklich ein Drama. Ein blutiges Drama, in dem es darum geht, den anderen zu beseitigen. Das zeigt sich im religiös motivierten Terrorismus, der eine regelrechte Ideologie ist und sich mit dem Namen Gottes ummäntelt. Die Ideologie des Terrors ist blasphemisch, sie zieht verzweifelte Herzen an oder auch satte und leere Existenzen: Sie bietet einen Feind an, den es zu bekämpfen gilt, sie versteht sich gleichsam als Berufung zur Befreiung. Aber das Töten Unschuldiger ist niemals Befreiung, sondern führt zur Sklaverei der Angst. Wer Menschen zu Sklaven macht und ihnen die Freiheit raubt, unterdrückt sie durch die Angst. So wird die Hoffnung ausgelöscht.

Durch den Terrorismus können wenige vielen Böses antun und, mit der Verbreitung durch die Medien, ihre Macht zum Zuschlagen zeigen. Diese Menschen wollen nicht die Welt verändern, sondern ihr Leid zufügen. So wird in Nairobi, in Kenia, ein Kind aus dem Westen für den religiösen Terrorismus zum Feind, der getötet werden muss. So sät man Tod durch einen Selbstmordanschlag bei einer schiitischen Beerdigung in Bagdad. Oder es werden Gläubige nach dem Sonntagsgottesdienst in einer anglikanischen Kirche in Pakistan ermordet. Auch kann ich die vielen Entführten nicht vergessen, besonders im blutbefleckten Syrien. Zu ihren gehören auch unsere Weggefährten im Dialog, die Bischöfe von Aleppo Paul Yazigi und Mar Gregorios Ibrahim, wie auch Paolo Dall’Oglio und andere. Die neue einstimmige Resolution des UN-Sicherheitsrates zu Syrien nach zwei Jahren des Stillstandes ist zu begrüßen, weil man unmenschliche Gewalt nicht durch Gewalt, sondern nur durch Verhandlungen beenden kann.

Was den Terrorismus betrifft, möge man nicht glauben, man könne ihm entgehen, indem man auf ein gutes Schicksal für sich selbst und die eigenen Lieben hofft oder darauf vertraut, nicht zu einer gefährdeten Gruppe zu gehören. Der globale Terrorismus ist blind. Wir müssen ihm ins Gesicht sehen. Ohne Angst. Bevor er entsteht oder wenn er entsteht. Seinen religiösen Wurzeln muss die Legitimation entzogen werden. Der heilige Name Gottes muss von seinen Lippen verschwinden. Seine Anhänger müssen ihm entzogen werden, indem man sie gemäß der Unterweisung der Lehrer und Propheten der Religionen zum Frieden erzieht. Dem Terrorismus tritt man auch mit der Einheit der religiösen Führer entgegen, die wir heute hier in Frieden zusammen sehen. Die Bilder dieser Tage unserer Begegnung in Rom sind eine Antwort auf den Terrorismus: Sie sind eine Auflehnung gegen wenige Gewalttätige und die Demaskierung einer irreligiösen Ideologie. Sie sind ein Schauspiel der Hoffnung, das dem Schauspiel des Terrors entgegen tritt, das wir auf den Bildschirmen und manchmal auch im Leben sehen.

Der Dialog zeigt die Verbundenheit. Der Dialog ist „vernünftige Eintracht unter den Religionen“, wie Nikolaus Kusanus in De pace fidei nach der türkischen Eroberung Konstantinopels und angesichts der Pläne für einen westlichen Kreuzzug sagte. Um den Klauen des Krieges zu entkommen, entwickelte er einen Traum: den Traum von einem Konzil der Religionen, die vor Gott gemeinsam über Frieden und Glauben nachdenken. Im Herzen der religiösen Traditionen findet sich in der Tat eine Botschaft des Friedens und des Respekts vor dem Leben. In der Sure „der Tisch“ im Koran heißt es: „Wenn jemand einen Menschen tötet, […] ist es, als ob er die ganze Menschheit getötet hätte. Und, wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, ist es so, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten“. Entsprechende Worte finden wir im Talmud. Ein alter hebräischer Text erinnert an das blasphemische Wesen der Gewalt: „Wer das Gesicht eines Menschen beleidigt, beleidigt das Gesicht des Herrn.“

Der Friede braucht eine Grundlage in den Religionen, die weiter reicht als das Hier und Jetzt. Ein Friede, der auf der Religion gründet, war der Traum von Johannes Paul II. in Assisi. Der Friede hat eine unauslöschliche spirituelle Dimension, weil er geduldig mit Glauben aufgebaut und weitergebaut werden muss. Deshalb gilt es, in die Tiefe des Brunnens des eigenen Glaubens hinab zu steigen und im Glauben zu wachsen. Es gibt viele spirituelle Ressourcen, die dazu verhelfen, die Mitmenschen voll Sympathie zu umarmen im Bewusstsein, dass ihre Existenz notwendig ist. Gleichgültigkeit und Intoleranz sind oft die Haltung oberflächlicher Gläubiger, die faul abgegriffene Formeln wiederholen.

Viele Ideologien sind untergegangen. Auch viele Hoffnungen. Die Wirtschaftskrise verbreitet Pessimismus. Es gibt nicht viele Visionen für die Zukunft. Diese vereinheitlichte Welt hat weniger Hoffnung als gestern. Es scheint, als enthalte der Himmel der globalen Welt keine Träume und keine Hoffnungen. Übrig bleibt ein großer Aberglaube. Der Religionshistoriker Mircea Eliade beschreibt ihn als modernen Aberglauben: „Wir sind alle mit einem Aberglauben geboren: dass uns bessere Plätze weiter oben erwarten, niemals weiter unten.“  Es geht uns darum, mehr zu haben und mehr uns selbst zu erreichen. Doch das tritt im Leben nicht ein. Daraus folgt immer eine Enttäuschung, vor allem in dieser Krise.

Klein gewordene Existenzen brauchen Hoffnung. Die spirituellen Dimensionen sprechen zu uns von einer Hoffnung, die größer ist, weniger gebunden an die Selbstbehauptung des Einzelnen, sondern verbunden ist mit einen Traum für alle. Bei Eliade heißt es: „Wir alle besitzen  einen Krug mit Öl für die Lampe. Doch statt es mit den Armen zu teilen, die im Finstern dahinsiechen, während sie ihre Lampen anfüllen, halten wir unseren Krug fest in Händen und warten auf das Signal, denn wir fühlen uns dazu bestimmt, die Lampen zu entzünden, um die Welt zu erleuchten. Währenddessen sterben die Leute neben uns“. Jesus lehrte in aller Einfachheit: „Geben ist seliger als nehmen“.

Die Hoffnung macht uns großzügig in der Gegenwart und reich in der Zukunft. Die Religionen können der Menschheit den Mut zur Hoffnung geben.  Der nicht gläubige jüdische Schriftsteller Abraham Yehoshua schreibt: „Auch wenn ich nicht an Gott glaube – seine Anwesenheit im Denken vieler Menschen geht mich etwas an und interessiert mich.“ Heute und hier setzt sich der Humanismus mit den Religionen auseinander. Seine Existenz schadet den Religionen nicht, sondern hilft ihnen in manchen Situationen, sie selbst zu sein.

 

Wir sind verschieden. Was die Unterschiede zwischen den Religionen betrifft, können die Menschen sie nicht beheben. Diese Verschiedenheit zeigt sich in verschiedenen Brunnen, aus denen Hoffnung und Kräfte des Friedens hervorquellen. Denn die Religionen besitzen eine Kraft, die nicht arrogant, sondern demütig und ausdauernd ist. Die Verschiedenheit ist kein Gegensatz, sondern eine überzeugende und vielstimmige Kraft. Die Freundschaft und das gegenseitige Verständnis sind ein entscheidender Schritt, um in Syntonie zu arbeiten. Deshalb setzen wir unsere Zeit für den Dialog ein. Die Aufgabe ist groß, die Männer und Frauen sind klein, doch die Religionen lehren, dass Gott größer ist.