30 September 2013 09:00 | Università Urbaniana - Auditorium Giovanni Paolo II
Unentgeltlichkeit im Zeitalter der Marktwirtschaft
Einleitung
„Jede Generation hat ihre Herausforderung“, sagen unsere Weisen. Zweifelsfrei gehört das Denken einer konsumorientierten Gesellschaft zu den Herausforderungen unserer Zeit. Herausgefordert werden durch dieses Denken die Werte – sowohl die menschlichen, als auch die g“ttlichen.
Zugespitzt lässt sich die heutige Situation des westlichen marktwirtschaftlichen Denkens wohl kaum treffender als mit den Worten von Dr. Jürgen Wilhelm, dem Vorsitzenden der Christlich-Jüdischen Gesellschaft in Köln, anlässlich der Woche der Brüderlichkeit ausdrücken:
„`Ich kaufe, also bin ich`. Der Mensch wird zunehmend auf seine Rolle als Konsument und auf seine ökonomische Nützlichkeit reduziert. Die Marktkriterien gelten schon lange nicht mehr nur für ökonomische Bereiche, sondern sie haben sich mitttlerweile zum allumspannenden Kriterium sozialen, kulturellen und politischen Zusammenlebens entwickelt. Dies wird kaum noch kritisch hinterfragt, und der ungezügelte Markt gilt vielen als Ideal, zumindest aber wird er immer mehr als alleiniger Gradmesser verstanden… Jedes Gespräch, Liebe, Spiel, Zärtlichkeit (…) ist eine Ware, die jemand zum Tausch anbietet. Jeder Mensch führt mit jedem anderen (…) ein Beziehungskonto – eine Perversion des Denkens!“
Übersetzt in die satirische Sprache des Schriftstellers Ephraim Kishon findet sich diese Mentalität auch in folgendem Beispiel wieder: Mit dem Trinkgeld und dessen Höhe erkauft sich der Kunde die Gunst und das Wohlwollen des Dienstleisters.
Über Frau Pollak von Parnegg, eine Neureiche aus dem Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts, erzählt eine Anekdote, daß ihr Ehemann ihr beim Besuch einer Gemäldegalerie gesagt haben soll: „Wenn dich ein Bild anspricht, dann sag`, es ist wunderschön, bezaubernd, kunstvoll – aber bitte sag` nicht unentwegt: Das ist unbezahlbar!“
Und wie steht es mit der Unentgeltlichkeit im Judentum? Gibt es `unbezahlbare` Dinge? Kann und soll alles mit Geld aufgewogen werden? Welche Rolle spielen Geld und Vermögen? In welcher Relation stehen sie zu anderen Werten? Sind sie an sich überhaupt als positiv oder als negativ zu bewerten?
Geld ist nicht alles
Zu Geld und Vermögen finden wir in den jüdischen Quellen viel Bezug. Zuerst einmal können wir aber eindeutig feststellen, was wohl kaum eine Überraschung ist: „Geld ist nicht alles.“ So richtet König David in den Psalmen seine Worte gegen diejenigen, welche anderer Auffassung sind (49, 7-18): „Die auf ihr Vermögen vertrauen, und mit ihres Reichtums Fülle sich rühmen… ihr Sinn ist, ihre Häuser seien für die Ewigkeit, ihre Wohnungen für alle Geschlechter… aber der Mensch im Glanze hat nicht Bestand, er gleicht dem Vieh, dem stummen. Schafen gleich wandern sie in die Gruft… denn bei seinem Tode nimmt er nichts mit von allem, nicht sinkt ihm nach sein Gut!“ Auch in der mündlichen Lehre, in den Sprüchen der Väter, wird diese Einsicht bekräftigt. Dort (6, 9) wird Rabbi Jose gefragt, ob er nicht um hohen Lohnes willen seinen Wohnort wechseln und an neuem Orte die Torah unterrichten möchte. Seine Antwort ist eindeutig: „Auch wenn du mir alles Silber, Gold, Edelsteine und Perlen der Welt gibst, werde ich nur an einem Ort der Torah wohnen! So steht es im Buch der Psalmen: (119, 72) `Die Lehre Deines Mundes ist mir lieber als Tausende von Gold- und Silberstücken`. Nicht nur dies, sondern in der Stunde, da der Mensch stirbt, begleiten ihn kein Silber und kein Gold… sondern nur (die Weisheit der) Torah und gute Werke allein…“
Fazit: Geld darf nicht überbewertet werden! Es begleitet uns nicht in die zukünftige Welt, es bindet die Seele nicht an die Ewigkeit. Überhaupt darf das Geld nicht als Zweck, sondern nur als Mittel gesehen werden. Die jüdischen Schriften warnen mehrfach davor, Reichtum als Ziel und Lebensinhalt anzusteuern. Im Buche der Prediger beschreibt König Salomon, wie Wohlstand, Reichtum und irdische Genüsse vergänglich und nichtig sind (Kapitel 2). Darüber hinaus ergibt sich aus dem Streben nach Reichtum eine endlose und unbefriedigende Jagd nach mehr: (5, 9) „Wer Geld liebt, wird des Geldes nicht satt“. Auch zieht Vermögen Nachteile nach sich, wie in den Sprüchen der Väter konstatiert: (2, 8) „Wer Vermögen mehrt, mehrt die Sorge“.
Positiver Bezug zu Vermögen und Besitz
Andererseits muss hier betont werden, dass das Judentum im Besitztum an sich nichts Negatives sieht, sofern in richtigen Relationen gehalten und zu guten Zwecken verwendet. Ein klares geregeltes Einkommen in Würde und Ehre sind nicht nur fester Bestandteil unser täglichen Gebete, sondern auch eine konkrete Anweisung in der Kindererziehung: Die Eltern sollen den eigenen Kindern ein gutes Gewerbe beibringen! Viele der Gebote der Torah lassen sich erst dann erfüllen, wenn man etwas besitzt, woran sich die Gebote erfüllen lassen: man braucht ein Getreidefeld für Abgaben an die Priester, Fruchtbäume für Abgaben an die Armen, ein Haus für Sicherheitsvorkehrungen wie Dachgeländer und Anbringen einer Mesusa, einen Bauernhof für Viehabgaben und Einhalten der Tiergesetze, ein Kleid für Verbote der Stoffdurchmischung und für das Anbringen der Schaufäden, Geld für Wohltätigkeit, etc. um nur einige Beispiele zu nennen.
Verschiedene Gebote und Gesetze erinnern uns daran, daß Besitztum und Vermögen nicht alles ist. Die oben schon erwähnten Abgaben sind oft in der Torah mit der Mahnung verknüpft, daß G“tt der Ewige, oder genauer gesagt der Ursprung alles Seins ist. Noch expliziter finden wir dies beim Gebot, jedes siebente Jahr die Feldarbeit ruhen zu lassen, mit der Begründung: (Leviticus 25, 23) „denn Mir gehört das Land, denn unbeständige Einwohner seid ihr bei Mir“. Wir sollen stets daran erinnert werden, daß G“tt uns zum Verwalter über Sein Gut gemacht hat, wenn wir denken, etwas zu besitzen, mit den damit verbundenen Auflagen, wie z.B. den Seinigen – den Armen und Bedürftigen – stets davon abzugeben.
Vergängliches vs. Ewiges – Materie vs. G“ttes Worte
Besitztum und Vermögen soll in richtigen Relationen betrachtet werden. Besonders stark kommt dies in folgendem Gesetz zum Ausdruck: An Schabbat ist es uns Juden verboten, Feuer zu löschen. Dies ist auch dann der Fall, wenn das eigene Haus in Brand steht! Das Haus soll eher abbrennen, als daß dieses Verbot übertreten werde! Praktiziert wird dieses Gesetz in der Regel nicht so, da bei einem Brand auch oft wenigstens indirekt Leben in Gefahr kommt, was das Löschen des Brandes rechtfertigt. Jedoch allein die Existenz dieses Gesetzes zeigt uns die Vorgabe der Religion: Selbst das Einhalten eines einzelnen Schabbatgesetzes kann den Wert unseres gesamten Vermögens übersteigen!
Interessanterweise können wir ein eigentliches Paradoxon in unseren Lebensbedürfnissen feststellen: Je notwendiger und wichtiger etwas zum Überleben ist, desto weniger kostet es! Ohne Luft kann ein Mensch nur etwa drei Minuten lang leben – doch Luft kostet nichts. Ohne Wasser hält es ein Mensch etwa drei Tage aus – Wasser kostet wenig. Ohne Nahrung kommt der Mensch etwa drei Wochen aus – Nahrung ist schon etwas teurer. Auf Luxus kann ein Mensch zum Überleben verzichten – dieser kostet jedoch am meisten!
Unsere Schriften lehren uns, dass die Torah kostenlos gelehrt werden soll: So wie unser großer Prophet Moses die Torah kostenlos von G“tt erhielt, so soll sie auch kostenlos jedem zugänglich gemacht werden. Dies stellt Religionslehrer und Rabbiner vor ein konkretes Problem: Wie sollen sie kostenlos ihrem Beruf nachgehen? Wovon sollen sie ihre Familie ernähren?
Maimonides, einer der größten jüdischen Gelehrten des Mittelalters, war tatsächlich der Auffassung, dass diese Regel genauso umgesetzt werden muss. Seiner großartigen Lehrtätigkeit und den daraus resultierenden Schriften konnte er durch die finanzielle Unterstützung seines reichen Bruders nachgehen. Als der Bruder jedoch bei einer Schiffreise mitsamt Vermögen verunglückte, musste Maimonides einen großen Teil seiner Zeit als Hofarzt des Khalifen tätig sein, um sich weiter ernähren zu können. Deswegen durften wir sein geplantes Großwerk – ein Kommentar zum gesamten Talmud – leider nicht mehr erhalten. Die meisten Gelehrten sind aber nicht derselben Meinung, sondern erlauben es einem Lehrer oder Rabbiner, zu unserem Glück, Gehalt für seine Tätigkeit zu beziehen, mit der Begründung, da er eigentlich einen anderen Beruf ausüben könnte und dafür entschädigt wird.
Die Worte der Torah sind zwar kostenlos, aber deswegen nicht weniger wertvoll, wie schon oben am Beispiel der Luft beschrieben. Ebenso verhält es sich mit vielen lebenswichtigen Dingen, welche wir zu oft als kostenlos betrachten, aber beim genaueren Hinsehen erst erkennen, wie lebenswichtig sie für uns sind! Zu diesen Dingen zählen auch die Liebe, die Güte, die G“ttesnähe und vieles mehr. Oft wird uns erst dann bewusst, wie wichtig diese für unser Leben und Überleben sind, wenn sie uns fehlen.
Resumee
Die Religion hat der heutigen Generation wichtige Erkenntnisse zu vermitteln, um Werte wieder über wirtschaftliches Denken zu stellen. Wollen wir einer intakten und besseren Welt entgegengehen, stabil und zukunftsorientiert, sollten wir von uns diesen Lehren inspirieren und leiten lassen.
Eine Anekdote, die dieses Thema passend zum Abschluss abrunden kann: Ein Mann kommt zum bekanntesten Herzspezialisten der Stadt, um sich von ihm behandeln zu lassen. Nach erfolgreich vollendeter Behandlung wird dem Patienten eine saftige Rechnung präsentiert, worauf dieser gesteht, daß er bettelarm sei und nicht einmal den Bruchteil dieser Rechnung bezahlen könne. Der Arzt reagiert ungehalten und erbost: `Wieso kommen Sie dann ausgerechnet zum teuersten Spezialisten der Stadt?` Darauf entgegnet ihm der arme Schlucker: `Wissen Sie, für meine Gesundheit ist mir nichts zu teuer…`