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Jürgen Johannesdotter

Lutherischer Bischof, Deutschland
 biografie
 
“Gott  ist Barmherzigkeit!” Was für eine wunderbare Überschrift über unsere heutige Gesprächsrunde. Es ist aber ja nicht nur eine Überschrift, sondern eine Aussage über Gott, mehr noch:  eine Beschreibung seines Wesens. Mehr noch: für Christen hat diese Aussage ein Gesicht bekommen: In Jesus Christus ist diese Barmherzigkeit Mensch geworden. Mehr noch: wenn wir als Glaubende, als Christen, diese Wesensaussage über Gott ernst nehmen, dann ziehen wir sie in unser Leben hinein und lassen sie unser Leben bestimmen. Und dann werden die Armen, die Mühseligen und Beladenen in dieser Welt, erfahren, dass dieser Satz nicht ein abstrakter theologischer Satz ohne Fleisch und Blut ist, sondern zu spüren, zu schmecken, zu erfahren ist. Dem wollen wir heute nachgehen. Ich darf gleich am Anfang sagen, dass ich nun in 12 Jahren der Freundschaft mit der Gemeinschaft von Sant‘ Egidio in tiefer Dankbarkeit erlebt und erfahren habe. Diese Begegnung und die wiederholte Teilnahme an den  Diensten  in der Gemeinschaft mich in meinem Bischofsamt verändert haben. Aus dem diakonischen Dienst an den Armen ist eine Freundschaft zu den Armen geworden, und das nicht nur zweimal im Jahr bei Besuchen in Rom, sondern auch nach der Rückkehr nach Deutschland
 
1. Gott ist Barmherzigkeit! 
•  Woher weiß ich eigentlich, dass Gott Barmherzigkeit ist? Durch Gottes Wort! In den Klageliedern Jeremias heißt es (Kap.3, 22-23):„Die Güte des Herrn ist es, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.“ Wie wunderbar, wie hoffnungsvoll ist es, dass wir als Glaubende wissen, wohin wir gehen können – auch mit den Abgründen unseres Lebens, dem Unbewältigten, auch mit unserer Schuld und sogar unserer Sünde, die wir doch am liebsten verstecken möchten, wenn wir sie schon nicht leugnen können. Wohl dem, der seine Schuld nicht verstecken muss und  darüber immer einsamer wird, sondern weiß, wo er sie los wird, wo sie ihm vergeben werden kann. Im Buch der Klagelieder begegnen wir einem Mann, der zu klagen hat. Wir hören von einem, der viel Schweres auf dem Herzen hat. Und dieser Mann darf einen Blick in das Herz Gottes tun. Er nimmt sich das zu Herzen, was er dort sehen darf:  Gott ist kein herzloser Gott, darum trau und hoff auf seine Hilfe.  Gott ist Barmherzigkeit – das erfahren wir am Ende nur im Gebet. „Deine Barmherzigkeit hat noch kein Ende!“ So betet dieser Mann. Es ist keine objektive Aussage, sondern ein Bekenntnis. Solch ein Bekenntnis aber können wir nur sprechen, wenn wir von uns absehen und hinsehen auf  die biblischen Zeugen, die das Wort Gottes zu uns bringen, in guten und in schweren Zeiten. In guten Zeiten Jubel und Freude, in schlechten Zeiten Trauer und Klage. Die Bibel verschweigt beides nicht – ihr ist nichts Menschliches fremd. Sie deckt nicht zu, was rausgeweint werden muss. Vor Gott darf alles laut werden, was uns umtreibt. Vor Gott müssen wir uns nicht verstellen. Hat Gott mit allem zu tun, dann ist er auch die Adresse für unsere Klage: Warum, Gott? Warum? Mancher wäre daran  zugrunde gegangen. Sein Glaube wäre daran zerbrochen. Aber bei diesem Klagesänger gibt es eine Wende, die überrascht.
•  Das ist nämlich die Wende: Indem er alles mit Gott in Verbindung bringt und auch mit dem Schweren zu Gott geht, öffnet sich ihm Gottes Herz. Er verliert sich nicht in einem bitteren Selbstgespräch. Er schreit seine Not nicht in einen leeren, dunklen Himmel. Er klagt seine Not dem Gott, dem sein Leben gehört. Er verlässt sich, er wandert aus sich aus, er verlässt sich auf Gott. Und Gott lässt ihn einen Blick in sein Herz tun als wollte er sagen: Hinter meinem Nein steckt ein Ja. Bei mir ist nicht Tod und Verderben; bei mir ist Leben und Freude. Meine Barmherzigkeit mit dir ist noch lange nicht erschöpft. Meine Barmherzigkeit hat kein Ende. Der Klagesänger schaut in Gottes Herz und entdeckt nicht, was er erwartet und befürchtet hat. Er entdeckt nicht Hass und Zorn, nicht kalte Gleichgültigkeit. Der Klagesänger schaut in Gottes Herz – und er entdeckt Erbarmen.
•  Barmherzigkeit brennt. Wir kennen die Geschichte von Josef und seinen Brüdern. Als er sie nach langer Zeit wiedersieht, da entbrennt sein Herz voller Erbarmen für seine schuldigen Brüder. Er kann nicht anders, er muss sie in den Arm schließen und sich mit ihnen versöhnen und ihnen helfen. So ist Gott: Er kann nicht anders. Wenn er auf uns schaut, dann entbrennt sein Herz für uns schwache, schuldige Menschen. Wir haben keinen Anspruch darauf. In einem Choral meines Gesangbuches heißt es: „Erbarmung ist‘ s und weiter nichts.“ In der Heiligen Schrift wird von Gottes Barmherzigkeit auf zweierlei Weise gesprochen. Zum einen wird Gottes Barmherzigkeit verglichen mit der Haltung von Müttern und zum anderen mit der von Vätern. Jesaja fragt einmal, ob sich das überhaupt denken lässt, dass sich eine Mutter ihres Kindes nicht erbarmt. Nein, lautet die Antwort. Wenn eine Mutter diesen „Titel“ überhaupt verdient, dann wird sie alles für ihr Kind tun, es nähren und lehren, es schützen und umsorgen. Und wenn das Unglaubliche doch passiert. Das mag wohl passieren in dieser Welt, aber Gott passiert es nicht. Er vergisst uns niemals. Unsere Namen hat er sich in dieHand tätowiert, so dass unsere Namen und unser ganzes Leben ihm stets vor Augen sind. Gottes Barmherzigkeit ist die einer guten Mutter, die stets für ihre Kinder sorgt.
•  Aber sie ist auch die von Vätern. Im 103. Psalm heißt es: „Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über uns.“ Ein Vater erbarmt sich über seine Kinder, indem er sie als seine Kinder anerkennt, seine Vaterschaft nicht leugnet. Ein Vater erbarmt sich, indem er sich zu seinem Kind bekennt und es bei sich aufnimmt. In dem Gleichnis vom verlorenen Sohn hören wir, wie der Vater den verlorenen Sohn wieder aufnimmt. Da ist der Blick in Gottes väterliches Herz. Der Vater kann es nicht ertragen. Er weist den Sohn nicht hinaus. Er rennt ihm entgegen und schließt ihn  in die Arme. Er erbarmt sich und bringt wieder in Ordnung, was zerbrochen war.
•  Dieses Erbarmen können wir nicht verbrauchen.Das schaffen wir bei Gott nicht, dass er sagen müsste: Jetzt ist mein Vorrat an Erbarmen verbraucht. Gottes Erbarmen erschöpft sich nicht. Er erbarmt sich nicht siebenmal, sondern siebenmal siebzigmal. Mehr noch: Jeden Morgen, wenn wir aufstehen, könnenwir sagen: So neu wie dieser Tag ist, so neu ist Gottes Erbarmen. Das ist es, was uns bleibt. Das ist unser Teil, „ourportion“, wie es eine amerikanische Bibel übersetzt. Es kann uns schon verwundern, wenn dieser Klagesänger Gott erst so heftig anklagt und dann plötzlich so zuversichtlich von Gottes Erbarmen spricht. Wie kommt das? Ich kann es nur so erklären; Gott lässt ihn einen Blick in sein Herz tun, und er sieht hinter dem Nein ein Ja. Und es kommt noch etwas hinzu: Er erkennt plötzlich auch die Spuren der Barmherzigkeit Gottes in seinem eigenen Leben. Ganz leise und doch spürbar: Es ist nicht aus mit uns. Wir sind immer noch da. Wir sind schwer getroffen, aber wir leben noch. Wir sind nahe am Abgrund, aber wir werden gehalten und stürzen nicht in die Tiefe. Das macht Gottes Barmherzigkeit. Über dem Abgrund – aber gehalten. Das ist Gottes Erbarmen. Von Jesus wird einmal erzählt, ihm sei das Leiden der Menschen an die Nieren gegangen. Ja, so ist es. Es bereitet Gott Nierenkoliken, wenn er Menschen leiden sieht. Und er lässt sie in sein Herz schauen. Wo sie, wo wir ein Nein sehen, da wohnt ein Ja. Darum betet Bischof Dom Helder Camara: „Herr, lehre uns ein Nein sagen, das nach Ja schmeckt, und niemals ein Ja, das nach Nein schmeckt.“ Das Schwere, das wir nicht verstehen, soll nicht das letzte Wort behalten.
 
2. Der Klagesänger, der einen Blick in Gottes Herz getan hat, nimmt sich Gott zu Herzen. Eigentlich ist er noch immer im Elend. Aber in ihm reift ein Entschluss: Das nehme ich zu Herzen. Ich will auf ihn hoffen. Von der Hoffnung singt sein Lied: Weil es doch nicht ganz aus ist, will er überhaupt noch hoffen. Und weil Gottes Barmherzigkeit jeden Morgen neu ist, will er auf ihn hoffen. Und weil Gott  solche Hoffnung nicht enttäuscht, weil er vielmehr freundlich auf Menschen schaut, die etwas von ihm erwarten, will er geduldig auf Gott hoffen. Das ist gut – „ein köstlich Ding“ übersetzt Martin Luther ins Deutsche: geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen. Ich will täglich ausschauen und erwarten, dass Gott mir und uns hilft, die Umstände ändert, in denen wir leben müssen, oder unser schwaches, kleines Herz, das es nicht mehr erträgt, oder beides.
•  Er, der so viel Schweres erlebt hat, er hat das Recht, er hat die Autorität, er hat die Glaubwürdigkeit, uns das zuzumuten. Sein Leiden macht ihn glaubwürdig, wenn er sagt: Ich will geduldig auf die Hilfe des Herrn hoffen, und ich bitte euch: Tut das ebenso. Es ist kein Gefühl, das ihn dazu bringt. Es ist ein Entschluss, es ist ein Akt seines Willens. Und das ist es, worum es auch heute geht: Wir sollen entdecken, dass in Gottes Herz nichts als Erbarmen wohnt, und zwar nicht allgemein und irgendwie, sondern Erbarmen konkret mit meinem und eurem Leben. Erbarmen mit den Armen. Und dann sollen wir eine Entscheidung treffen, die wir vielleicht noch nie so getroffen haben. Alles in unserem Leben soll mit Gott in Verbindung stehen. Auch das Schwere, das Zerbrochene und Kranke, gerade das, wo ich furchtbar versagt habe und schuldig wurde, wo ich mit meinem Leben in die Irre gegangen bin und nicht aus noch ein weiß. Das will ich ihm sagen, mit festem Blick auf seine mütterliche Fürsorge und sein väterliches Erbarmen. Und ich will auf ihn hoffen, dass er hilft. Hoffen und Harren soll uns dann nicht zum Narren machen. Gottes Erbarmen soll dem Schweren folgen.  „Er betrübt wohl“, heißt es am Ende dieses Liedes, „aber dann erbarmt er sich nach seiner großen Güte.“ Und das können wir gar nicht konkret genug durchbuchstabieren und ins Leben ziehen. Die Hoffnung soll sich aufrichten auf das, was uns konkrete Not bereitet: die Kinder, die sich auf der Flucht befinden – in Syrien und anderswo: Herr, erbarme dich! Die alten Menschen, die nur als Last empfunden und behandelt werden: Herr, erbarme dich! Die Flüchtlinge, die auf kaputten Schiffen zu uns kommen: Herr, erbarme dich!  Die Geiseln, die sich in den Händen von Gewalttätern befinden: Herr, erbarme dich! Die Christen, die um ihres Glaubens willen verfolgt werden: Herr, erbarme dich! Die ungeborenen Kinder, deren Mütter sie aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit abtreiben: Herr, erbarme dich! Die Armen und Hungernden unter den Brücken und in den Slums unserer reichen Städte: Herr, erbarme dich! Und wenn wir dann zur Eucharistie gehen, lasst uns den Entschluss fassen, auf Gott, auf sein Erbarmen und seine Hilfe zu hoffen. Und wenn wir die Eucharistie empfangen, dann lässt uns Gott einen Blick in sein Herz tun, dann schmecken und spüren wir  Gottes Erbarmen. Und dann lasst uns hingehen und Gottes Erbarmen mit den Armen teilen, denn es wird durch Teilen nicht weniger, sondern zu einem Schatz für viele.
 
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und Ihr geduldiges Zuhören.