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Marco Impagliazzo

Historiker, Präsident der Gemeinschaft Sant’Egidio
 biografie

Marco Impagliazzo, Abschlussveranstaltung „Der Schrei nach Frieden“ – Rom, 25.10.2022

Aus der Welt, die von den Stürmen des Krieges gebeutelt wird, erheben sich Rufe und Bitten um Frieden. Millionen von Menschen bringen auf unterschiedliche Weise einen Willen zum Ausdruck: „Nie wieder Krieg!“ Aus der bombardierten Ukraine, aus den Schützengräben des Donbass ertönen die Schreie der Verwundeten, der Sterbenden, die Klagen der Familien und Freunde. Aus Syrien, dem Kaukasus, Afghanistan, dem Jemen, Libyen, Äthiopien, der Sahelzone, dem Norden Mosambiks und Dutzenden anderer bekannter und unbekannter Orte ertönen dieselben Schmerzensschreie und Bitten um Frieden. So viele Schreie, so viele Bitten! Wer hört auf diese Stimmen? Wer hört schon auf die Stimmen derer, die nicht mehr da sind?

Durch Lärm und Gleichgültigkeit bringt man die Lebenden und die Toten zum Schweigen. Die Stimmen der Toten – von denen wir oft nicht einmal die wirkliche Zahl kennen – werden unterdrückt, die Klagen der Verwundeten, der Leidenden, der Hungernden, der Flüchtlinge. Die faktischen Kriegsbefürworter erklären uns, dass es „gerechte Kriege" und „heilige Kriege" gibt.

Aber wir sind hier, weil wir uns entschieden haben, auf den Schrei so vieler Brüder und Schwestern der Menschheit zu hören. Aus allen Teilen der Welt sind wir hier und wollen unsere Ohren nicht verschließen und uns den Kriegsgründen beugen. Wir haben uns stattdessen entschieden, auf den Schrei nach Frieden zu hören, der von allen Kontinenten ausgeht.

Liebe Freunde dieses Friedenspilgerwegs, der nun schon 36 Jahre seit 1986 in Assisi unterwegs ist, sollten wir nicht entschiedener auf den Wahnsinn des Krieges reagieren? Ist es nicht an der Zeit, die in unseren religiösen Traditionen enthaltenen Friedensenergien mit mehr Einsatz freizusetzen, die in der Lage sind, neue Wege aufzutun? Das Gebet ist ein Weg zu dem, was man noch nicht sieht. Es geht um die Vorstellung von Frieden in Zeiten des Krieges! „Religionen", so sagte Andrea Riccardi, „sind lebendige Organismen: Sie sammeln die Sehnsüchte von Gemeinschaften, die im Land verwurzelt sind, nahe am Schmerz, an der Freude und am Schweiß der Menschen.“

In diesen 36 Jahren hat sich die Welt verändert. Der Kalte Krieg ist vorbei (Johannes Paul II. sagte nach 1989: „In Assisi haben wir nicht vergeblich gebetet"), die Idee des Kampfes der Kulturen wurde zurückgewiesen. Das Verständnis und die Freundschaft zwischen den religiösen Welten ist viel stärker gewachsen als zwischen den Nationen. Unser Gebet hat Vorstellungen verändert, die unangreifbar schienen, hat Szenarien verändert, die so verfestigt waren wie ein eiserner Vorhang. Wenn die Religionen auf den Ruf nach Frieden hören und ihr Gebet, ihre schöpferische Fähigkeit vereinen, kann sogar dieser in Bruchstücken geführte Weltkrieg beendet werden.

Wir brauchen Leidenschaft und Phantasie als Alternative zu der gegenwärtigen, dramatisch blockierten Situation, nicht zuletzt, weil wir am Rande einer weitaus größeren Katastrophe stehen. Die Wege zum Frieden sind da. Es geht darum, sie zu in den Blick zu nehmen, sie aufzuzeigen, sie zu erschließen, sie einzuschlagen. Ja, „in vielen Teilen der Welt braucht es Wege des Friedens, die zur Heilung der Wunden führen, es braucht Handwerker des Friedens, die bereit sind, mit Einfallsreichtum und Kühnheit Prozesse der Heilung und der neuen Begegnung in Gang zu setzen", schreibt Papst Franziskus in Fratelli tutti! Es ist Zeit für neue Wege.

Werden wir in der Lage sein, Entdecker einer neuen Zeit zu sein? Werden wir in der Lage sein, Propheten zu sein, die die Welt braucht? Bei der Entgegennahme des Friedensnobelpreises erklärte Martin Luther King: „Ich weigere mich, die Idee zu akzeptieren, dass eine Nation nach der anderen in die Hölle der nuklearen Zerstörung hinabsteigen soll. Ich glaube, dass es selbst inmitten von Explosionen und Kugeln Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt. Ich glaube immer noch, dass sich die Menschheit eines Tages vor den Altären Gottes verneigen und über Krieg und Blutvergießen triumphieren wird. Und der Löwe und das Lamm werden beieinander liegen, und jeder wird unter seinem eigenen Weinstock und unter seinem eigenen Feigenbaum sitzen, und niemand wird sich mehr fürchten. Daran glaube ich immer noch!"

Das ist unsere Überzeugung. Der Weg, den wir beschreiten wollen, führt zur Schaffung von Geschwisterlichkeit auf allen Ebenen. Um die Globalisierung zu leben, kann man weder allein noch gegen sie sein. Alle Länder brauchen den Samen der Begegnung und des Dialogs, aus dem die Bäume wachsen, die die Schwachen schützen, die Armen ernähren, die Kranken heilen und die Umwelt gastfreundlich machen.

In diesen 36 Jahren haben wir dies verstanden, ebenso wie in diesen drei Tagen der Begegnung und Freundschaft: Es gibt neue Grenzen, die auf dem Weg zum Frieden bald überwunden werden! Der Glaube versetzt Berge, und Gott ist größer als alles und jede Macht.

Vor genau sechzig Jahren, am 25. Oktober 1962, wandte sich Johannes XXIII. an alle Machthaber, um die Krise in Kuba abzuwenden, die eine atomare Konfrontation heraufbeschwor: „Wir erinnern an die schwerwiegenden Pflichten derjenigen, die die Verantwortung für die Macht tragen. Und wir fügen hinzu: Sie sollen auf den verzweifelten Schrei hören, der von allen Enden der Erde, von unschuldigen Kindern bis zu alten Menschen, von Einzelnen bis zu Gemeinschaften, zum Himmel emporsteigt: Frieden! Frieden!"

Es ist derselbe Schrei, den wir heute wiederholen, bis er von allen gehört wird, demütig und kraftvoll: „Frieden! Frieden!"



Die videos der veranstaltung

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25 Oktober 2022 | dauer: 00

Abschlussveranstaltung des internationalen Friedenstreffens "Der Schrei nach Frieden"

Marco Impagliazzo bei #thecryforpeace:
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