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Peter Brandt

Fernuniversität, Hagen
 biografie
Der Zusammenhang von „Mauern“ und „Frieden“ liegt nicht auf der Hand. Die Mauern von Jericho fielen laut dem biblischen Buch Josua nach blutigem Kampf zusammen, letztlich beim Klang der Trompeten. Der einst durch das heutige südliche Deutschland verlaufende Grenzwall des antiken Römischen Reiches, der Limes, und ebenso die seit dem späten 14. Jahrhundert errichtete große Chinesische Mauer schirmten hochzivilisierte Imperien vom Ansturm vermeintlicher Barbaren ab.
 
Die vielen Stadtmauern im mittelalterlichem Europa schützten die Keime einer neuen, persönliche Freiheit gewährleistenden, in wachsendem Maß partizipatorischen, auf die Expansion von Gewerbe und Handel gerichteten Gesellschaftsform im Schoß der dominierenden agrarisch-feudalen und von Adel beherrschten. Der bäuerlichen Hörigkeit Entflohene galten in der Regel nach einem Jahr als freie Einwohner, die den Schutz ihrer Gemeinde beanspruchen durften. „Stadtluft macht frei“ lautete die zeitgenössische Parole, und nur die Mauern schützten die – relative – städtische Freiheit. Diese musste lange und immer wieder nach außen verteidigt werden, und auch nach innen vollzog sich die Öffnung des Stadtregiments alles andere als konsensual. Insgesamt war das mittelalterliche Europa ausgeprägt gewalttätig, auch im kleinen Rahmen.
 
Ich mache einen Zeitsprung ins 20. Jahrhundert: Wir sind versammelt in Berlin, wo von 1961 bis 1989 dasjenige Bauwerk stand, das im Wortgebrauch nicht nur der Deutschen als „die Mauer“ fortlebt, eine historische Ikone ersten Ranges. Die Öffnung, dann der Fall der Berliner Mauer symbolisiert den freiheitlichen Aufbruch des ganzen einstigen östlichen Blocks und mit dem Ende der Teilung des europäischen Kontinents die Hoffnung auf eine Ära des Friedens und des Zusammenwirkens der Staaten, wie sie die Charta von Paris vom November 1990 ankündigte.
 
Es ist hier nicht der Ort, en détail zu diskutieren, inwieweit die emanzipatorischen und friedenstiftenden Intentionen der Oppositionsbewegungen, Bürgerrechtsgruppen und Reformer von oben in der Endkrise des sog. real existierenden Sozialismus (der vielleicht besser als bürokratischer oder Staatskollektivismus zu bezeichnen wäre) zum Tragen kamen. In einem Kampflied der großen polnischen Arbeiter- und Volksbewegung Solidarność hieß es: „Die Mauern werden fallen und die alte Welt unter sich begraben.“ Es triumphierte aber nicht nur die individuelle Freiheit und bis zu einem gewissen Grad die kollektive Selbstbestimmung, sondern parallel dazu auch der seit den 1970er Jahren mehr und mehr entfesselte und globalisierte Markt-, speziell Finanzkapitalismus, und das ist auf allen Ebenen mit ursächlich für die heutigen existenziellen Menschheitskrisen.
 
Zurück zur Berliner Mauer: Ihre Errichtung vollendete den Eisernen Vorhang durch Europa, indem sie die Teilung Deutschlands buchstäblich betonierte. Es war eine humanitäre Katastrophe; ein sozialer Organismus, der die Vier-Sektoren-Stadt trotz zweier in unterschiedliche Staatsordnungen integrierter Stadtverwaltungen bis 1961 geblieben war, wurde zerrissen. Nicht nur Bekannte und Freunde, auch Familien wurden getrennt. Es war fraglos ein Zeichen der Schwäche des ostdeutschen Staates, dass er mit Rückendeckung der Sowjetunion diesen Schritt gehen musste, um die ständige, seit 1960 anschwellende Fluchtbewegung namentlich jüngerer Akademiker und Facharbeiter zu stoppen. Die Flucht über die immer mehr perfektionierte Mauer und die ebenso hermetisch abgesperrte Grenze der DDR zur westdeutschen Bundesrepublik wurde jetzt zu einem lebensgefährlichen Unterfangen.
 
Die Westalliierten, namentlich die USA, nahmen den Mauerbau mit kaum verhohlener Erleichterung auf; das war aus ihrer Interessenlage verständlich, denn ihre aus der Kriegsniederlage Hitler-Deutschlands resultierenden Siegerrechte wurden kaum tangiert.Und man hatte schlimmere Szenarien vor Augen gehabt. Dennoch kam es im Gefolge des Mauerbaus im Oktober 1961 an der Berliner Demarkationslinie zu einer äußerst gefährlichen Konfrontation sowjetischer und amerikanischer Panzer anlässlich eines Streits um die ungehinderte Bewegungsfreiheit westalliierter Militärs im Ostteil Berlins (wie sie umgekehrt auch für sowjetische Soldaten in den Westsektoren bestand).
 
Noch gefährlicher war ein Jahr danach die Krise um die Stationierung atomarer Mittelstrecken-Raketen durch die Sowjetunion auf Kuba, als einige Tage lang der alles zerstörende globale Atomkrieg wahrscheinlicher schien als eine einvernehmliche Lösung. Die Doppelkrise um Berlin und Kuba wurde dann aber – und darauf will ich hinaus – zum Ausgangspunkt der späteren Entspannung, als sich die Führer der beiden Weltmächte – übrigens unter Mitwirkung von Papst Johannes XXIII. - auf einen Kompromiss verständigten. Die sog. gesicherte Zweitschlagskapazität bedeutete schon damals, dass als Zweiter stirbt, wer als Erster zündet.
 
Die Fixierung des machtpolitischen Status quo in Europa durch den Berliner Mauerbau, der eine gewisse auch wirtschaftliche Konsolidierung der DDR ermöglichte, wurde im Westen Deutschlands mit Verzögerung zum Ausgangspunkt eines realistischeren und auf längere Fristen gerichteten Umgangs mit der Teilungsproblematik. In West-Berlin entwickelte die Senatsregierung, da man bis auf Weiteres mit der Mauer leben musste, das Konzept einer „Politik der kleinen Schritte“, um die die Stadt zertrennende Grenze wenigstens durchlässiger zu machen.
 
Neben den humanitären und nationalen Motiven des „Wandels durch Annäherung“, so die programmatische Formel, spielten friedenspolitische eine wesentliche Rolle; denn Deutschland mit seiner damals extremen Konzentration gegeneinander gerichteter zerstörerischer Waffensysteme wäre im Kriegsfall pulverisiert worden. Der frühzeitige Einsatz sog. taktischer Atomwaffen war fest eingeplant, und es wäre für die Mitteleuropäer gleichgültig gewesen, ob eine Begrenzung des Krieges auf diesen Kontinent gelungen wäre oder nicht.
 
1963 und deutlicher 1969/70 begann ein langwieriger und komplizierter Prozess, wo nun auch verstärkt die zivilgesellschaftlichen Kräfte, nicht zuletzt die Friedensbewegungen und Vereinigungen wie Ihre Gemeinschaft Sant’Egidio, zur Geltung kamen und wo kleinere und mittelgroße Staaten, so nicht zuletzt die Bundesrepublik Deutschland, mit einer eigenen Agenda und mit ihren speziellen Anliegen eine gezielte Entspannungspolitik einleiteten. Dieser Prozess erreichte in der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) 1975 ein vorläufiges Ergebnis.
 
Da es nicht gelang, die zwischen den Supermächten vertraglich vereinbarte Rüstungskontrolle zu echter Abrüstung, auch im konventionellen Bereich, weiterzutreiben, blieb die Entspannung verletzlich, und ab den späten 1970er Jahren schien eine erneute beiderseitige atomare Hochrüstung, kombiniert mit innergesellschaftlichen Auseindersetzungen in Staaten der südlichen Hemisphäre, namentlich in Afghanistan und in Mittelamerika, sowie in Polen den Kalten Krieg wiederzubeleben, teils fahrlässig, teils planmäßig vorangetrieben von den Hauptprotagonisten. Anders als in den 1950er und frühen 1960er Jahren bemühten sich kontinentaleuropäische Regierungen aus Eigeninteresse jetzt aber um eine Dämpfung der Konfrontation und sorgten dafür, dass die zuvor geschaffenen Verträge und Institutionen, namentlich die KSZE, die kritische erste Hälfte der 1980er Jahre überstanden, bevor Michail Gorbatschows kühne Initiativen alles änderten.
 
Die Berliner Mauer fiel - Gott sei Dank nicht in Schutt und Asche. Der Politik in den Ländern der nördlichen Hemisphäre tat sich eine einmalige historische Chance auf, Gemeinsame Sicherheit zu institutionalisieren und den Frieden dauerhaft zu sichern. Diese Chance wurde nicht ausreichend genutzt. Mit den Konsequenzen haben wir derzeit zu tun.