11 September 2023 16:00 | Hilton Berlin

Rede von Serafim



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Serafim Joanta

Orthodoxer Metropolit, Patriarchat von Rumänien
 biografie
„Dein Wort, Herr, ist ein Licht auf meinem Wege” (Psalm 119,105). 
„Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch bis es scheidet Seele und Geist.” (Hebräer 4,12) 
 
Gott der Herr offenbarte sich im Alten Bund den Menschen durch Sein Wort gegenüber Mose: „Der Herr redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet” (Exodus 33,11), und gegenüber den Propheten, denen Er Sein Wort ins Herz eingab. Im Bund des Neuen Testaments offenbarte sich Gott der Welt durch Seinen menschgewordenen Sohn beziehungsweise durch den menschgewordenen Logos, den Erlöser Jesus Christus: „Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn, ..., durch den er auch die Welt gemacht hat” (Hebräer 1,1-2). Die Schriften des Alten und des Neuen Testaments sind das Wort Gottes, das sich an die Menschen richtet, damit diese die Wahrheit erkennen, die sie frei macht.
 
Die Kirchenväter sagen, dass Gott den Menschen nach dem Bilde Seines Sohnes geschaffen hat mit der Bestimmung, Ihm gleich zu werden. In jedem Menschen existiert eine natürliche Dynamik auf das Urbild hin, eine ontologische Sehnsucht nach seinem Prototyp, die ihn dazu bringt, sich nicht mit dem zufrieden zu geben, was ihm die geschaffene Welt bietet, sondern immer danach zu streben, das Kreatürliche zu überwinden, um selbst „Gott der Gnade nach zu werden”, wie dieselben Kirchenväter sagen. Alle Menschen wollen „Götter der Gnade nach” sein („Wohl habe ich gesagt: ‚Ihr seid Götter’”; Psalm 82,6), denn alle streben nach Gott, alle wollen frei sein von jedem Druck und von jeder Begrenzung; doch nicht alle wissen, dass sie nur durch Gottes Gnade selbst „Götter” werden können und „Anteil bekommen an der göttlichen Natur” (2. Petrus 1,4). Gott allein macht uns frei und lässt uns Frieden und Ruhe für unsere Seelen finden. „Du hast uns auf Dich hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir!“ Zu diesem Schluss kommt der Heilige Augustinus nach vielen Jahren der Suche nach dem Glück in der weltlichen Philosophie ohne Gott und in den Dingen dieser Welt.      
 
Jeder Mensch, der sich von Gott entfernt und entfremdet, macht dieselbe traurige Erfahrung wie der Heilige Augustinus. Denn Seelenfrieden und innere Ruhe finden wir nur  bei Gott. 
 
Doch wo finden wir Gott, um in Ihm Ruhe zu finden?
 
In unserem Herzen! 
 
Das Herz ist die Mitte des menschlichen Wesens; im Herzen konzentrieren sich wie in einem Fokus alle physischen und psychischen Kräfte des Menschen und durchdringen es wie ein Magnetfeld. Außerdem ist das Herz auch der bevorzugte Ort, an dem Gott im Menschen wohnt. Durch Seine ungeschaffene Gnade, das heißt durch die Energien, die von Seinem Wesen ausgehen und sich über die gesamte Schöpfung ergießen, verbirgt sich Gott auf demütige Weise im Herzen jedes Menschen und in der gesamten Schöpfung, „damit Gott sei alles in allem” (1. Korinther 15,28), ohne dass dabei je Schöpfer und Schöpfung verwechselbar sind. Gott ist gleichzeitig durch Seine ungeschaffenen Energien in der Welt und steht doch über der Welt. In der Tiefe alles Erschaffenen begegnen wir Gott dem Herrn als dem Schöpfer und der göttlichen Vorsehung aller Geschöpfe. Die gesamte Schöpfung ist für den Menschen mit Vernunft erschaffen, gestaltet und ausgestattet. Dies ist die „Logik” der Schöpfung, die allerdings vom Menschen durch seine Entfremdung von Gott und durch die Sünde gestört wird. 
 
Die Schöpfung ist auf den Dialog mit dem Schöpfer hin durch das Wort geschaffen: durch die Betrachtung der Schöpfung – die Kontemplation – betrachten wir Gott selbst, ihren Schöpfer und „Urheber”. Der heilige Franz von Assisi redete mit der Sonne und dem Mond und nannte sie „Bruder” und „Schwester”. Die Heiligen lebten in vollendeter Harmonie mit der Schöpfung, den Tieren und der Umwelt, weil sie durch Gebet und Askese zu einem mitleidsvollen Herzen gefunden hatten, also zu einem Herzen voller Erbarmen und Mitgefühl für die ganze Menschheit und für die ganze Schöpfung. In einem guten und reinen Herzen rekapituliert und konzentriert sich die ganze Schöpfung. Der einzelne Mensch ist dabei nicht nur ein Fragment der Menschheit oder des Kosmos, denn er trägt alles in seinem Herzen. Der Mensch als Person ist von niemand und nichts getrennt; alles lebt auf reale Weise in seinem Herzen. Nur das egoistische Individuum fragmentiert die Natur, hält sich für ihren Beherrscher und entwürdigt und erniedrigt sie.       
 
Doch wie dringen wir in unser Herz vor?
 
Durch das Bemühen darum, unseren Geist von seiner Zerstreuung in den äußerlichen Dingen abzuhalten, um ins Herz „hinabzusteigen”. Was wir „Geist” (griechisch „nous”), Intellekt oder Verstand nennen, ist nichts anderes als eine Energie des Herzens. Solange der Geist in Verbindung mit dem Herzen bleibt, erfreut er sich des Friedens und drückt sich in Worten und Werken aus, die von positiven Energien geprägt sind, also von der Gnade, die im Herzen wohnt. Wenn er sich mit Äußerlichkeiten, mit irdischen und materiellen Dingen zerstreut, dann erschöpft er seine Fähigkeiten und Kräfte an den Dingen dieser Welt, die ihm aber nie innere Zufriedenheit schenken könne. Er bleibt dann immer undankbar und unzufrieden. Von daher rühren auch die inneren Spannungen, Missverständnisse und Streitigkeiten zwischen den Menschen, die inneren Zerwürfnisse und Kriege zwischen den Menschen. Der heilige Serafim von Sarov sagte aus gutem Grund: „Finde zu deinem Seelenfrieden und tausende von Menschen in deinem Umfeld werden erlöst”; das heißt sie werden ebenfalls ihren Frieden finden, indem sie Gott kennenlernen.     
 
Unser Geist hat in seinen Gedanken eine erstaunliche Flexibilität und Beweglichkeit und kann nur durch das Gebet und die Kontemplation von seiner Zerstreuung in die äußerlichen Dinge abgehalten werden, sowie durch die Lektüre und Meditation des Wortes Gottes. Doch um zu beten und Kontemplation zu üben, um das Wort Gottes zu lesen und es zu meditieren, muss man die Motivation des Glaubens haben und das Wissen darum, dass man sich nur durch ein ausgesprochenes Bemühen des eigenen Willens im Innersten des Herzens mit Gott vereinen kann, um in Ihm Ruhe zu finden und zugleich die eigenen inneren Kräfte zu erneuern. 
 
Praktizierende Christen, die ihren Glauben mit Herz und Seele leben, wissen, dass das Gebet und die Lektüre des Wortes Gottes der Heiligen Schrift seelisches Gleichgewicht schenken und auch Kraftquellen sind für das tägliche Ertragen des eigenen Kreuzes im Blick auf  die Versuchungen des Lebens und die dem Leben immer inhärenten Prüfungen und Leidenserfahrungen. Sie wissen aus ihrer alltäglichen Erfahrung, dass ohne Gebet und Lektüre des Wortes Gottes ihr Leben sich auf bloßes Existieren hin verengt und sogar pervertiert werden kann. So bemühen sich wahre Christen darum, den Rat des Apostels zu befolgen: „Betet ohne Unterlass!”  (1. Thessalonicher 5,17). 
 
Der Erlöser selbst sagt: „Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; gerade sie legen Zeugnis über mich ab” (Johannes 5,39). Zu Sinn und Bedeutung der Lektüre der Heiligen Schriften sagt der Apostel Paulus: „Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechjtigkeit” (2. Timotheus 3,16). Und Abbas Antonius, der Vater des Mönchtums rät, „du sollst für alles, was du tust, das Zeugnis der Schrift haben”. Das bedeutet, dass man in der Lektüre der Heiligen Schrift versiert sein muss, dass man sie gut kennen muss, damit sie uns in allen Lebenslagen inspirieren kann, um die beste Entscheidung zu treffen. Die Geistlichen Väter empfehlen ihren Schülern die tägliche Lektüre von mindestens zwei Kapiteln der Heiligen Schrift. Besonders die Lektüre der Psalmen, die eine Art Resümee der gesamten Heiligen Schrift sind, ist von großem geistlichen Nutzen. Daher sagte auch der heilige Basilius der Große (*330- † 379): „Die Sonne möge nach ihrem Aufgang nicht untergehen, bevor du nicht einige Psalmen gelesen hast.”    
 
Das Gebet und die Lektüre der Heiligen Schrift sind eng miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig: das Gebet schafft in der Seele einen Zustand der Demut, um die Heilige Schrift mit geistlichem Gewinn und Verständnis zu lesen, statt sie nur intellektuell zu erforschen; das Wort Gottes wiederum verleiht dem Gebet Flügel.   
 
Die Zeiten, die wir erleben, sind schwer, wirr und konfus, weil so viele Menschen Gott nicht mehr kennen und sich von Ihm entfremdet haben. Sie wollen unabhängig und „autonom” sein, selbst gegenüber Gott. Doch die „Unabhängigkeit” von Gott führt zur Abhängigkeit von der Welt und den materiellen Dingen sowie zur Versklavung unter die Nichtigkeiten dieser Welt. Die wahre Freiheit, die uns Lebensfreude und Seelenfrieden schenkt, erlangen wir nur durch das Gebet und die Kenntnis des Wortes Gottes! Daher gilt: „Schmeckt und sehet, wie freundlich der Herr ist!” (Psalm 34,8).