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Jaron Engelmayer

Oberrabbiner von Wien, Österreich
 biografie
Coronakrise, Ukraine-Krise, Energie-Krise, Finanzkrise – wir leben in einer von Krisen durchzogenen Zeit und lassen uns durch die neuen, hoffentlich temporären Krisen manchmal fast schon von den fixen Krisen ablenken, wie etwa die nach wie vor nicht gelöste globale Umweltkrise, oder auch die Klimakrise, welche deshalb aber nicht einfach verschwinden. Deshalb, wollen wir es angehen und die Krisen der Reihenfolge nach lösen... Wenn es doch so einfach wäre! Nein, die großen Weltkrisen werden wir wohl kaum von hier aus auflösen können, ich befürchte, nicht einmal eine davon, aber durchaus wichtige Schritte in die richtige Richtung hierfür einschlagen. 
 
Krisen sind fürchterliche Erscheinungen, mit zumeist schlimmen und tragischen Folgen, von welchen viele Menschen betroffen sind. Darüber hinaus sind sie aber auch Herausforderungen, welche bewältigt werden können, durch Verständnis und Verständigung. Genau diese beiden Komponenten finden auch hier, an der jährlich stattfindenden Konferenz von St. Egidio statt: die Entwicklung und Förderung von Verständnis und Verständigung; von Austausch der Sichtweisen und Angehen von Kooperationen, insbesondere wo gemeinsame Interessen im Vordergrund stehen, wie etwa die Erhaltung unserer Welt, die Eindämmung von Konflikten und die Stärkung des Friedens. Hierzu können die Stimmen der verschiedenen Religionsgemeinschaften einen wichtigen und kraftvollen Beitrag leisten, an dieser Stelle einen herzlichen Dank an die Gemeinschaft St. Egidio, welche hierfür auch nach Jahrzehnten mit großem, herzhaftem und unermüdlichem Einsatz eine wichtige Plattform anbietet. 
 
Konkrete Antworten, wie die globale Umweltkrise zu bewältigen ist, werde ich wohl nicht geben können, dafür gibt es zahlreiche Experten auf diesem Gebiet, welche sich seit vielen Jahren an dieser Frage die Zähne ausbeißen. Aber gerne möchte ich die jüdischen Grundlagen darlegen, wie sich unser Verhältnis zur Umwelt von Grund auf gestaltet und religiöserseits angedacht ist: 
 
Hierbei geht es nicht nur um eine logische Verantwortung gegenüber sich selbst und den Mitmenschen, sich durch unverantwortliches Verhalten nicht die eigene Lebensgrundlage zu entziehen, oder um die Rücksicht auf die Ausgeglichenheit der Tier- und Pflanzenwelt, über all dem steht noch eine größere Verantwortung: gegenüber dem Schöpfer. Was war das erste Gebot, das Er der Menschheit gab, kaum war diese erschaffen? „Und Er segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und vermehret euch, füllet die Erde und macht sie euch Untertan...“ (1. Buch Moses 1, 28). Und das erste Gebot, welches Adam, dem ersten Menschen, als Individuum und Vertreter für alle Nachkommen gegeben wurde, lautete: (dort 2, 16) „Und der Ewige, G“tt, befahl Adam also: Von jeglichem Baume des Gartens (Eden) sollst du essen!“ Der Schöpfer trug also dem Menschen auf, die Welt zu nutzen, sie zu genießen (!), und sie sich Untertan zu machen. 
 
Gleichzeitig und damit einhergehend kam jedoch auch ein Auftrag: „Und der Ewige, G“tt, nahm den Menschen, und setzte ihn in den Garten Eden, ihn zu bebauen und zu behüten“ (dort 15). Der Mensch ist also dazu berufen, die Welt zu bearbeiten, sie weiter zu entwickeln, aber gleichzeitig, diese zu behüten und zu bewahren. „Er ist G“tt, Schöpfer der Erde... nicht für das Chaos (Tohu) hat Er sie geschaffen, sondern zur Bewohnung gebildet“ (Jesaja 45, 18). Konstruktiv soll der Mensch mit der Welt verfahren, nicht zerstörerisch, das ist sein Grundauftrag. Damit wird er zum Partner G“ttes auf Erden, zum Verwalter seines Gutes. 
 
Dies wird dem gläubigen Juden durch einige Glaubenspraktika stets gegenwärtig, wie beispielsweise: (1) das Sprechen von Segenssprüchen, (2) das Einhalten der Schabbat-Gesetze, sowie (3) das Befolgen der Schmittah-Bestimmungen.
 
Ein Segensspruch soll vor jeglichem Genuss irdischer Güter gesprochen werden. Der Talmud (Brachot 35a) erklärt hierzu, dass es einen scheinbaren Widerspruch zwischen zwei Aussprüchen der Psalmen gibt. Einerseits heißt es: „Dem Ewigen gehört die Erde und ihre Fülle“, andererseits: „und die Erde gab Er dem Menschen.“ Der Widerspruch löst sich dadurch auf, dass der eine Vers vom Zustand vor dem Sprechen eines Segensspruches handelt – da gehört die Erde noch allein G“tt, und jeglicher Genuss käme einem Diebstahl gleich – wohingegen der zweite Vers nach dem Sprechen eines Segensspruches angeht. Denn mit diesem „hat Er die Erde dem Menschen gegeben“, durch den Segensspruch wird sich der Genießende bewusst, dass die Güter der Erde nicht besitzlos waren und von sich aus – quasi „von Natur aus“ – einfach so und unbegrenzt zur Verfügung stehen, sondern ein Geschenk G“ttes sind, womit bewusst und mit gebotener Vorsicht umgegangen werden soll. Dies verringert übrigens den Genuss nicht, sondern ganz im Gegenteil, vermehrt und intensiviert es ihn, denn erst durch die gebührende Wahrnehmung und Wertschätzung erhält ein Genuss seine wirkliche genießerische Note. 
 
Durch das Einhalten der Schabbat-Gesetze am wöchentlichen Ruhetag, von Freitagabend bis Samstagabend, drückt der religiös praktizierende Jude de facto aus, dass die Welt einen Schöpfer hat. Das Unterlassen von jeglicher schöpferischer Tätigkeit und bleibender Veränderung der Welt an diesem Tag soll die Demut und das Bewusstsein unterstreichen, dem Schöpfer und Seiner Schöpfung zu huldigen und an den anderen Tagen der Woche unsere enormen schöpferischen Fähigkeiten im Sinne des Schöpfers einzusetzen.
 
Das Befolgen der Schmittah-Bestimmungen, welche das Bearbeiten der Felder und Gärten im alle 7 Jahre kehrenden Brachjahr in Israel untersagen, bringen dem Landwirt ebenfalls stets in Erinnerung, dass er nicht der alleinige Besitzer des Landes ist, sondern bloß ein Verwalter desselben, und G“tt, Dem die Erde wirklich gehört, die Vorschriften setzt und anweist, das Land ruhen zu lassen. 
 
Sehr konkret wird die Anleitung der Torah, wenn es um die Bewahrung der natürlichen Ressourcen geht. In einem Kriegsfall darf ein Baum nicht vernichtet und die Axt nicht gegen ihn erhoben werden (5. Buch Moses 20, 19), laut Maimonides nicht einmal auf indirekte Art und Weise, durch Herbeiführung oder Verursachen einer zerstörerischen Auswirkung. Nachmanides führt an, dass die Torah das Extrembeispiel eines Krieges nennt um aufzuzeigen, dass selbst dann, wenn die Prioritäten anders gesetzt zu sein scheinen, wenn kriegerische Auseinandersetzungen die Realität bestimmen und die Normen setzen, dennoch die Erhaltung der Natur nicht ignoriert werden darf. 
 
Aus diesem Gebot leiten unsere Weisen ein allgemeines Verbot ab, Ressourcen ohne rechtfertigenden Grund zu vernichten, egal in welchem Ausmaß. Darunter fallen ebenso noch zu verwertende Essensreste oder Kleidungsstücke, welche unnötig weggeworfen werden, oder einfaches Material, wie selbst ein Blatt Papier, welches unnötig kaputt gemacht wird, als auch von Menschenhand verursachte Naturkatastrophen oder das industrielle rücksichtslose Ausschlachten von Naturgütern, insbesondere wenn sie sich nicht erneuern.    
 
Die Tierarten sollen erhalten und geschützt bleiben, wofür laut Nachmanides symbolisch mahnend das Verbot der Torah steht, ein Tier und sein Kind am selben Tag zu schlachten.
 
Nochmal auf die Schöpfungsgeschichte zurückkommend: Der Mensch wurde als letztes aller Geschöpfe erschaffen. Der Midrasch-Kommentar sieht darin nicht nur den Hinweis, dass er damit zur „Krone der Schöpfung“ bestimmt ist, sondern auch im Gegenteil sich von jedem anderen Geschöpf, selbst von einer kleinen Mücke, sagen lassen muss, dass dieses noch vor ihm existierte, Demut und Verantwortung vor der gesamten Schöpfung einfordernd. Der Kabbalist Rabbi Jizchak Luria erweiterte diesen Gedanken: jedes Geschöpf hat eine eigene Seele, weshalb selbst das unnötige Pflücken einer Blume zu unterlassen ist. Denn alle Geschöpfe singen gemeinsam ein großes Loblied auf die Schöpfung und den Schöpfer, wie im Psalm 104 beschrieben, und die Melodie jedes einzelnen Grashalmes wird hierfür gebraucht. 
 
Wir befinden uns diese Woche vor dem jüdischen Neujahrsfest, Rosch Haschanah, aber tatsächlich kennen wir 4 Neujahrsfeste, welche in der mündlichen Lehre (Mischna Rosch Haschanah 1, 1) aufgezählt werden. Nicht alle werden gleich intensiv gefeiert, jedoch genießt noch einer der Vieren mehr Aufmerksamkeit: Tu biSchwat – das Neujahrsfest der Bäume. An diesem, stets tief im Winter, werden die Bäume und die Natur gefeiert und in den Mittelpunkt gestellt. Mögen wir den Bäumen, der Natur, und uns allen auch zu diesem noch die kommenden Jahrhunderte wünschen dürfen: ein gutes Neues Jahr!