Der 12. September 1989 fiel genau wie heute auf einen Dienstag. Ich war damals gerade 25 Jahre alt geworden und lebte in Ostberlin in der Bergstraße. Die Straße war durch die Mauer geteilt. Ein Teil lag im Westen, ein Teil im Osten der Stadt – heute ist dort das Mauermuseum. Für mich ist das immer noch ein Wunder!
Die Situation in der DDR war damals von einer großen Resignation gekennzeichnet. Über 200.000 Menschen flüchteten allein 1989 illegal in den Westen. Wer im Land protestierte, wurde verhaftet. Am 3. Oktober wurde dann auch noch die letzte geöffnete Grenze der DDR nach der Tschechoslowakei geschlossen. Wir waren von Mauern umgeben. Im Land marschierte die Armee auf und bereitete sich darauf vor, jeden Protest gewaltvoll niederzuschlagen. Der 40. Geburtstag der DDR am 8 Oktober 1989 sollte ungestört über die Bühne gehen. Was tun? Ich fühlte Angst, aber auch Hoffnung – jetzt war der Zeitpunkt, an dem eine Entscheidung bevorstand.
In der evangelischen Gethsemanekirche, 5 Kilometer von hier entfernt im Prenzlauerberg, gab es tägliche Friedensgebete und eine Mahnwache für die Inhaftierten. Am 4. Oktober begann ich zusätzlich eine Fastenaktion als ein konkretes Angebot zum gewaltfreien Widerstand. Für mich veränderte diese Entscheidung mein Leben.
Von da an saß ich Tag und Nacht in der nun ständig offenen Kirche, fastend und betend. Ich durfte die Kirche nicht mehr verlassen, dann wäre ich sofort verhaftet worden. Viele Menschen haben sich der Fastenaktion angeschlossen und noch mehr Freundinnen und Freunde unterstützten mich bei den Gebeten. Jeden Abend um 18:00 kamen Tausende zu dem Friedensgebet in die Kirche. Viele waren dabei zum ersten Mal in ihrem Leben in einer Kirche. Immer wenn Unruhe aufkam, trat ich an das Mikrophon und begann, mit den Leuten den Kanon „Dona nobis pacem“ zu singen. Am 7. und 8. Oktober wurden dann Hunderte Menschen nach dem Gebet verhaftet und von Armeelastwagen weggefahren. Niemand wusste zunächst, wo sie sind und was mit ihnen passiert.
Am 9. Oktober waren wir daher besonders angespannt. Schon lange vor dem Friedensgebet war die Kirche überfüllt. Sobald das Gebet begann, wurde die Kirche von außen von der Polizei und der Armee abgeriegelt. Wir rechneten mit dem Schlimmsten. Wir sangen und beteten und hofften. Und dann hörten wir aus Leipzig: Tausende Menschen demonstrieren nach dem Gebet in der Innenstadt und die Polizei und Armee greift nicht ein! Wir öffneten die Türen der Gethsemanekirche und sahen: Die Wasserwerfer und Armeelastwagen fuhren weg, die Polizei zog sich zurück. Das war unbegreiflich!
Singend und mit Kerzen in der Hand gingen die Menschen vor die Kirche auf die Straße und viele andere schlossen sich ihnen an. Von da an gab es kein Halten mehr. Jeden Abend kamen mehr Menschen in die Kirche und gingen im Anschluss auf die Straße.
Einen Monat später am 9. November fiel die Mauer. Ein führender DDR-Politiker sagte im Nachhinein: Wir haben mit allem gerechnet, aber nicht mit Kerzen und Gebeten. Natürlich spielten viele Faktoren eine Rolle. Ich bin nach dieser Erfahrung überzeugt: Gebete haben eine verändernde Kraft, sie können friedlich gesellschaftliche Veränderungen vorantreiben und Mauern sprengen!