Sehr geehrter Herr Präsident der Republik,
Erlauchte Vertreter der christlichen Kirchen und der Weltreligionen,
Liebe Freunde!
In diesem Moment von Frieden zu sprechen, scheint uns auf die Seite der Träumer zu stellen. Für viele Völker ist die Zeit des Krieges gekommen. Ein Krieg, der sich ausweiten könnte, wenn über den Einsatz von Atomwaffen in Europa oder anderswo diskutiert wird. Jahrzehntelang war die Kultur des Friedens ein mächtiger Bezugspunkt: Wie konnte sie sich in Luft auflösen?
Heute hat der öffentliche und internationale Diskurs seine zahlreichen Bezüge zum Frieden verloren. Den internationalen Friedensinstitutionen, allen voran den Vereinten Nationen, fehlt oftmals die Autorität, die durch die Zustimmung der Staaten verliehen wird. Eine große Menge an Waffen ist im Umlauf. Konflikte gehen mit der Entwicklung kriegerischer Leidenschaften unter den Völkern einher.
Der gemeinsame universale Horizont, der im Laufe der Jahre aufgebaut und durch die weltweite Erfahrung des Covid gestärkt worden war, hat sich verflüchtigt. Papst Franziskus beschrieb dies 2020 mit den Worten: „Wir stellen fest, dass wir nicht jeder für sich allein, sondern nur gemeinsam vorankommen können.“
Warum befindet sich die Kultur des Friedens in einer Krise? Es wäre einfach – und auch richtig – zu antworten: wegen der Brutalität der Kriege, der Aggressionen, des Terrorismus. Doch wir haben auch ein moralisches Erbe verbraucht, das uns das zwanzigste Jahrhundert mit seinen schrecklichen Erfahrungen hinterlassen hat: zwei Weltkriege, die Shoah, Vertreibungen, der Einsatz von Atomwaffen. Ein Erbe, das von den verstorbenen Zeugen der Shoah verkörpert wurde. Aber auch ein Erbe, über das eine Generation gesprochen hat, die Generation unserer Ältesten, die wussten, was ein Weltkrieg bedeutet, weil sie ihn selbst erlebt hatten. Jetzt sind sie nicht mehr da.
Während des Kalten Krieges haben die Verweise auf die Kultur des Friedens zwar keine Konflikte verhindert, aber sie bildeten einen Schutzwall, eine Alternative. Die Erinnerung an den Schrecken. Aus diesem Schrecken entsprang der moralische und politische Imperativ, bestimmte Grenzen nicht zu überschreiten und Frieden zu schließen. Die Erinnerung an den Krieg wurde entwertet, die Hoffnung auf Frieden wurde brüchig. Die Behauptung einer Politik, die so sehr realistisch ist, dass sie an Kraft verliert, hat sich verbreitet. Es wird wenig gewagt und man läuft den Ereignissen hinterher.
Lange Zeit war von einem sauberen Krieg oder einem technologischen Krieg die Rede. Doch der Krieg zeigt sich heute in seiner ganzen obszönen Brutalität und – wie es der Titel einer unserer Foren ausdrückt: „Das Leben des Menschen ist immer weniger wert“. Während des Ersten Weltkriegs schrieb ein italienischer Infanterist in seinem bäuerlichen Realismus an seine Frau: „Man nennt es Krieg, doch man landet unter der Erde.“ Wir sehen heute, wie zerstörerisch Kriege sind. Und es ist nicht einfach, sie zu beenden, auch nicht mit Waffengewalt. Im Allgemeinen ziehen sich die heutigen Kriege in die Länge: Da sie kein Ende haben, schaffen sie abartige Auswucherungen.
Die Religionen haben eine Geschichte der Verwicklung in den Krieg bis hin zu seiner Sakralisierung hinter sich. Manchmal ist es so weit gekommen, dass der Krieg im Namen Gottes ausgerufen wurde, was wir als Blasphemie betrachten. Religiöse Gemeinschaften bestehen zwar aus Männern und Frauen, die die fatale Anziehungskraft der Zeit erleben, aber sie wissen dennoch, dass es etwas jenseits von ihnen gibt und dass die Tiefe der religiösen Traditionen die grundlegende Botschaft des Friedens vermittelt. In den großen religiösen Traditionen ist das Grundprinzip des Friedens verankert. Schon der Name Gottes beinhaltet Frieden.
Die Religionen haben gewiss kein Monopol auf den Frieden. Frieden ist niemals Gegenstand eines Monopols, sonst ist es kein Frieden. Wenn sich Frauen und Männer verschiedener Religionen begegnen, entsteht auch in der Vielfalt eine Harmonie. Das ist eine Geschichte, die von weit her kommt. Von sehr weit her. Ich möchte nur den letzten Aspekt dieser Geschichte erwähnen: im Oktober 1986, als Johannes Paul II. die Religionsoberhäupter in Assisi, der Stadt des Heiligen Franziskus, dazu einlud, gemeinsam für den Frieden zu beten. Der Papst hatte diese Überzeugung, mitten im Kalten Krieg, dass die Religionen eine schwache und bescheidene Kraft des Friedens seien und dass sie zusammen sein müssen, um sich nicht von den kriegerischen Leidenschaften ihrer Welt beherrschen zu lassen. Johannes Paul II. erklärte zum Abschluss von Assisi: „Wir haben gemeinsam unsere Augen mit Friedensvisionen gefüllt: sie setzen Kräfte frei für eine neue Sprache des Friedens, für neue Gesten des Friedens, Gesten, welche die verhängnisvollen Ketten der Entzweiungen zerbrechen, die von der Geschichte ererbt oder durch moderne Ideologien geschmiedet worden sind.“
Das Bild von Assisi, bei dem die Religionsoberhäupter nebeneinander im Gebet und in Frieden standen, stellte einen Wendepunkt dar. Assisi war das Ergebnis einer machtvollen Fähigkeit, einen Blick auf die Zukunft zu werfen. Germaine Tillion, eine Überlebende der Nazilager, die mit einer großen menschlichen Intelligenz ausgestattet war, sagte: „Alle verwandt, alle verschieden“.
In der Anrufung Gottes für den Frieden zeigt sich die schwache Kraft der Religionen. Ausgehend von diesem Treffen in Assisi gewann das kleine Volk der Gemeinschaft Sant'Egidio die Überzeugung, dass die Welt der Religionen die Energien für eine neue Sprache und für Gesten des Friedens enthält. Jahr für Jahr trafen wir uns als Religionsoberhäupter und Gläubige. Auch wenn wir bei vielen Gelegenheiten auf eine harte Probe gestellt wurden, geben wir diese Vision nicht auf, wir überlassen die religiösen Welten nicht der Isolation, sondern spüren vielmehr die Notwendigkeit, den Dialog weiterzuentwickeln. Wir haben dies in Warschau zur Zeit des Kalten Krieges getan. Wir taten es nach dem 11. September 2001. Wir tun es auch heute noch in Paris. Ich denke an die vielen Früchte, die im Kontext dieses Geistes von Assisi gereift sind: das Dokument über die menschliche Brüderlichkeit, das 2019 in Abu Dhabi von Papst Franziskus und dem Groß-Imam von Al Azhar, Al Tayyeb, einem Freund unserer Treffen, unterzeichnet worden ist.
„Imagine Peace“ ist der Titel des Treffens, das heute eröffnet wird. Ich danke dem Präsidenten der Republik, Emmanuel Macron, für seine Unterstützung, seine Anwesenheit und seine Freundschaft. Ich danke allen, die hier anwesend sind, für die Teilnahme. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um dem Erzbischof von Paris, Monsignore Laurent Ulrich, für seine Einladung und seine treue Freundschaft zu danken. Die Tatsache, in Paris zu sein, Frau Bürgermeisterin, liebe Anne Hildalgo, ist von großer Bedeutung. Ohne eine Apologie des Universalismus zu betreiben, muss man anerkennen, dass in dieser Stadt und in Frankreich „ein Gefühl für die große Welt“ lebend ist, wie Jean-François Colosimo schreibt.
Paris war Gastgeber der 33. Olympischen und der Paralympischen Spiele, die von Milliarden von Menschen verfolgt wurden. Sie waren eine Botschaft an die Welt. Sport und Wettbewerb zwingen zur Konfrontation und zur gegenseitigen Abhängigkeit. Michel de Certeau sagte: „Nie ohne den anderen!“ Diese Erkenntnis hat auch Millionen von Menschen in einen stimmungsvollen Rahmen eingebunden: gemeinsam mit einem globalen Horizont. Ohne die Unterschiede zu verleugnen: Antagonismus, Wettbewerb, Kampf, Leidenschaft für nationale Identitäten ... gleichzeitig eine einheitliche Sicht der Welt und das Gefühl einer Schicksalsgemeinschaft.
Zwar hatte Präsident Macron den Olympischen Frieden gefordert. Der Vorschlag stellte eine Chance dar, wurde aber abgelehnt. So ist es auch mit dem Krieg. Das ist der Zeitgeist! Mein Freund Mario Giro schreibt: „Krieg ist ein bisschen wie Drogen. Man sagt: ‚Ich höre auf, wenn ich will... Wie oft haben wir diese Aussagen schon gehört... Jetzt hören wir sie in den Reden der Politiker angesichts des Krieges. Wir sind jetzt auf Kriegsdroge.“ Die Realität ist, dass wir es nicht schaffen, aufzuhören.
Wir müssen über den Frieden nachdenken und Ideen finden! 1975 hielt Paul Ricoeur eine Vorlesung über die Vorstellungskraft und stellte fest, dass die Welt die Utopie sehr verabscheut. Auf diese Weise wird eine versteinerte Gesellschaft erzeugt. Dennoch hat Ricoeur bis zum Schluss nicht aufgehört, die kreative Funktion der Imagination vorzuschlagen. Die Vorstellungskraft befreit uns von der Resignation. Sie schafft Alternativen.
Die Religionen leben, ausgehend vom Gebet und im Bewusstsein, dass Gott die Geschichte verändern kann, sie leben von einem Impuls der Vorstellungskraft. Die Schriften sind reich an Fantasie. Die von der Geschichte Vergessenen bekommen einen Namen. Gott ist bei denen, die keine Stimme und keine Kraft haben. Die Verlierer, lehrt das Buch Exodus in der Bibel, finden einen Ausweg, und die bewaffneten Männer ertrinken im Roten Meer. Die Gläubigen dürfen die Dimension der Hoffnung, die aus dem Glauben erwächst, nicht verlieren. Religiöse Machtpositionen werden geschwächt, wenn sie sich dem Verhalten im Krieg anpassen.
Der bekannte Gelehrte, Rabbiner Jonathan Sacks, betonte, dass die Religionen in einer von Spaltungen beherrschten Zeit das Gespür für das gemeinsame Schicksal wiederfinden müssen. Das erfordert den Dialog. Wenn man die verschiedenen offenen Krisen betrachtet, mag dieser Schwur rhetorisch erscheinen, eine Idee gutmütiger Seelen, die sich nicht mit der Geschichte beschmutzen wollen. Doch die Gläubigen spüren den Schmutz und den Schmerz des Krieges: Schmerzensschreie vereinen sich mit Warnrufen. Sie selbst, Herr Präsident, haben bei unserem Treffen in Rom vor zwei Jahren vom unreinen Frieden gesprochen. Wir müssen die Fähigkeit zur Vorstellungskraft angesichts festgefahrener Situationen wieder erwerben. Nelson Mandela, der seine Kämpfe als Angehöriger eines gedemütigten Volkes anführte, war in der Lage, eine Friedenspolitik zu schaffen. Er sagte: „Frieden ist kein Traum: Er kann Wirklichkeit werden; aber um ihn zu erhalten, muss man in der Lage sein zu träumen“. Es gilt, versteinertes Denken zu transzendieren.
Die Religionen sind durch ihre eigene Tradition, durch den Schmerz der Menschen, zu einer großen Anstrengung aufgerufen. „Wenn die Menschen nicht dafür sorgen können, dass die Geschichte einen Sinn hat, können sie sich so verhalten, als ob das Leben einen Sinn hätte“, schrieb der berühmte nichtgläubige Intellektuelle, Albert Camus. Die Tatsache, dass man bei sich selbst anfangen muss, kann uns niemand nehmen. Wir müssen die Männer und Frauen verändern, denn die Welt braucht heute Menschen, die keinen Hass empfinden und weitsichtig sind. Bei sich selbst anzufangen kann am Ende zu einem Fluss werden, der alles mit sich reißt. Wir lesen im Buch Esther: „Das ganze Volk der Gerechten geriet in Bestürzung. Sie fürchteten Unheil und rechneten mit ihrem Untergang. Da schrien sie zu Gott. Aus ihrem Schreiben wurde wie aus einer kleinen Quelle ein großer Strom mit viel Wasser.“