Die Religionen und der Wert des Lebens
Friedensgebet in Krakau 2009 St. ´Egidio
Ich freue mich, dass ich als Vertreter der geistlichen Bewegungen an dieser Stelle einen Beitrag zu diesem wichtigen Thema einbringen darf.
Bei meinen Ausführungen möchte ich mich auf den christlichen Glauben mit einem evangelischen Hintergrund begrenzen, denn in der Ergänzung der Sichtweisen liegt ja geradezu der Schlüssel für unser Miteinander. Gleichzeitig wird die Nähe zur Jüdischen Position deutlich, wenn ich mich auf Texte aus dem Alten Testament, aus der Tora, beziehe.
Die biblischen Texte zeigen uns Gott als den Schöpfer. IHM verdanken wir das Leben. Beginn und Ende des Lebens liegen in der Hand Gottes. Der Psalmbeter des 104. Psalms drückt dies so aus: "Du nimmst weg ihren Odem, so vergehen sie und werden wieder Staub. Du sendest aus deinen Odem, so werden sie geschaffen"
Eindeutig und klar ist die Unverfügbarkeit des Lebens.
In Gen 9,5-7 wird das göttliche Hoheitsrechts über dem menschlichen Leben ausgesprochen (vergleiche auch Hes. 18,4). Der Alttestamentler Gerhard von Rad schreibt dazu: "Das menschliche Leben ist schlechthin unantastbar, und zwar nicht um des Menschen willen, aus irgendwelchem Gesetz der Humanität heraus, … sondern weil der Mensch Eigentum Gottes ist und nach dem Bild Gottes geschaffen ist"
Gott als der Schöpfer des Lebens stellt das Leben in seine lebensschaffenden Ordnungen hinein, die wir im Dekalog als die 10 Gebote kennen. In der klaren Anweisung Gottes "Du sollst nicht töten" wird der menschlichen Freiheit Grenzen gesetzt, sowohl in Bezug auf das eigene Leben als auch auf das der anderen. Leben bleibt in der Verfügung Gottes und darf nicht der Beliebigkeit des Menschen, seiner Willkür oder seinen Interessen ausgesetzt sein.
Für ein gelingendes Zusammenleben - und dafür sind die Ordnungen Gottes ja gedacht - fließt der Segen und damit Glück und Leben, wenn wir in diese Ordnungen leben. Wir erfahren das Gegenteil, nämlich Lebensminderung - mit Fluch beschrieben - wenn wir uns nicht daran halten (Deuteronomium 30,15.19)
Das neue Testament bekennt im Johannesevangelium, dass Christus selbst das Leben ist. Er als der ewige Logos ist das Leben selbst und ist der Ursprung des Lebens. Christus ist das wahre Leben und in ihm haben wir Leben.
Das Lebensverständnis des Paulus ist entscheidend durch die Auferweckung Jesu Christi von den Toten bestimmt (1. Kor. 15,4) Damit wird auf die wichtige Dimension des ewigen Lebens im christlichen Glauben verwiesen.
Für den ersten Johannesbrief wird die Frage nach dem Leben in die Beziehung zum Anderen hinein genommen wenn wir dort lesen (1. Joh. 3,14), dass die Bruderliebe das wahre Leben ist.
Jesus Christus selbst fordert uns nicht nur zur Bruderliebe, sondern zur Feindesliebe auf. Das was Jesus an Feindesliebe in der Bergpredigt ausdrückt ist revolutionär für das Zusammenleben der Menschen. Für das praktische Zusammenleben bringt Jesus mit der Goldenen Regel das auf den Punkt, was im Prinzip in allen Religionen zu finden ist: "Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch."
Lassen Sie mich aus dem eben Gesagten einige praktische Konsequenzen kurze andeuten:
1. Für das Zusammenleben
Für die Wertschätzung des anderen und seines Lebensstils ist die Goldene Regel eine große Hilfe. Würde uns gelingen, was in der Goldenen Regel zusammengefasst ist, sähe das Zusammenleben der Menschen anders aus.
Ein Blick ins Internet unter wickipedia zeigt uns, wie praktisch in allen Religionen diese Regel vorhanden ist. Wenn es uns gelänge, auch durch dieses Friedensgebet diese Weisheit in allen Religionen zu fördern, dann könnte daraus eine große Hilfe für die Wertschätzung des Lebens der anderen gewonnen werden.
Welches Leid wäre den Völkern Europas mit Blick auf die Weltkriege erspart geblieben, wenn der Aufruf Jesu zur Feindesliebe und zur Versöhnung beachtet worden wäre.
2. Die Unverfügbarkeit des Lebens, im besonderen am Beginn und Ende des Lebens
Diese Frage scheint mir in besonderer Weise aktuell zu sein. In den westlichen Ländern leben wir in einem Zeitgeist, der die Verantwortung vor Gott mehr und mehr leugnet. Mit der Ablehnung der göttlichen Instanz über uns, mit der Ablehnung des Schöpfers, der uns nach seinem Bild geschaffen hat und unsere Unverfügbarkeit über das menschliche Leben betont, wird auch das menschliche Leben relativiert.
Der Mensch als Letztinstanz macht vor dem Leben keinen Halt. Der Schutz des Lebens wird relativiert. In der Debatte über die Sterbehilfe kommt überdeutlich zum Ausdruck, dass der Wert des Lebens plötzlich mit dem Willen zur Freiheit konkurrieren muss. Ist meine Freiheit, mein Leben zu beenden, wenn es mir nicht mehr lebenswert scheint, genau so hoch zu schätzen wie die Unantastbarkeit des Lebens?
Wohin wir kommen, wenn wir diese Grenzen relativieren, das haben wir Deutschen mit dem Nationalsozialismus sehr drastisch erfahren. "Lebens unwertes Leben" war das Schreckenswort, mit dem Menschen darüber urteilten, welches Leben lebenswert ist und welches nicht:
" Menschen mit körperlichen oder seelischen Behinderungen
" Menschen bestimmter Rassen
Wenn wir morgen nach Auschwitz gehen, dann wird uns der Schrecken dieses menschlichen Wahns überdeutlich werden. Wir können uns nur verbeugen vor den opfern.
Doch wie konnte es nur dazu kommen? Wie konnten Menschen mit einem christlichen Hintergrund zu solchen Gedanken und Taten kommen?
Der Glaube wurde durch die Ideologie verdunkelt und verzerrt. Menschen wurden zur Letztinstanz, die über Leben und Tod, über lebenswert und unwert entschieden haben.
Für mich war es unvorstellbar, dass wir nach diesen Schrecken des Hitlerreiches je wieder in solche Verzerrungen hinein geraten könnten. Ich sehe jedoch, wie der Zeitgeist die Letztinstanz Gottes leugnet und damit der Mensch mit seiner Willkür wieder zur Letztinstanz wird. Schon heute ist es leider Realität:
- Behindertes Leben wird abgetrieben, oft bis in die letzten Wochen vor der Geburt. Die Pränatale Diagnostik ist ein Instrument, solches Leben zu verhindern, das niemand mehr zuzumuten ist. Unwertes Leben? Wenn ich an meinen Freund Egon denke, einen spastisch Gelähmten. Er dürfte heute nicht mehr lebend zur Welt kommen. So weit sind wir schon wieder
- Millionen von Kindern werden jährlich abgetrieben. Schon zeichnet sich in unserer Gesellschaft das ab, was in Deuteronomium 30 beschreiben wird "Wenn du dich nicht an die Ordnungen Gottes hältst, dann wird daraus Fluch entstehen". Die Todeskultur ist zumindest in Westeuropa unübersehbar. Der Rückgang der Bevölkerungszahlen ist eine Folge dieser Lebensverneinung.
- In besonderer Weise sehe ich die Debatte um die Sterbehilfe auf uns zukommen. Ich habe den Eindruck, dass wir als Christen die Debatte um die Abtreibung verloren haben. Wird unsere Gesellschaft den nächsten Schritt in die Todeskultur gehen und das Ende des Lebens genauso relativieren?
Die Ehrfurcht vor dem Schöpfer, der sich selbst das Leben vorbehalten hat, verbietet uns eigentlich diesen Schritt
- Sind wir schon so in den Verzerrungen um den Wert des Lebens geraten, dass wir die Kraft nicht mehr haben, dagegen aufzustehen?
- Werden wir in 30 Jahren soweit sein, dass es unmoralisch ist, über 80 zu werden und damit auf Kosten der wenigen jungen Menschen zu leben. Ist dann ein Leben jenseits der 80 bzw. mit entsprechenden Krankheitsbildern nicht mehr lebenswert?
- Ich will damit jedoch nicht einer Gerätemedizin das Wort reden, die das Sterben künstlich verlängert. Das wäre ein separates Thema.
Ich bin tief überzeugt, dass die Ehrfurcht vor dem Schöpfer, der uns geschaffen hat, uns davor bewahren kann, dem Wahn zu verfallen, das menschliche Leben sei beliebig, sei auf eine Stufe mit der Freiheit zur Selbstbestimmung zu setzten.
Im Miteinander für Europa haben wir in der Schlussbotschaft ein 7-faches Ja formuliert. Dazu gehörte das Ja zum Leben in allen seinen Phasen von der Zeugung bis zum natürlichen Tod.
Ich bin tief davon überzeugt, dass alle Religionen diese Ehrfurcht kennen und gemeinsam für den Wert des Lebens einstehen. Mögen diese Tage, gerade auf den Hintergrund des Wahnsinns des 2. Weltkrieges und der KZ uns Kraft und Einmütigkeit verleihen, für den Wert des Lebens einzustehen.