12 Septembre 2011 16:00 | Neues Rathaus, Grosser Sitzungssaal
„Christen und Juden – vom Dialog zur Freundschaft“, Johannes Friedrich
I. Persönliche Erfahrungen
Ich war tief bewegt, als vor vier Jahren die neue jüdische Synagoge mitten in München eingeweiht wurde. Der herrliche, große, gold glänzende Raum. Das ewige Licht wurde entzündet und die Torarollen aus der bisherigen Synagoge fanden nun ihren Platz im großen Toraschrein.
Im selben Jahr wurden auch das Gemeindezentrums Shalom Europa in Würzburg und das Gemeindezentrum in Bamberg eingeweiht. Zu allen drei Zentren konnten wir aus einer Kollekte unserer Kirche etwas beisteuern.
Das sind große Augenblicke, die zeigen: In vielen Städten Bayerns kehren die jüdischen Gemeinden wieder an die Orte zurück, aus denen sie vor 70 Jahren vertrieben worden waren.
Aber oft sieht die Realität anders aus: Ich nenne als Beispiel die kleine fränkische Gemeinde Mönchsroth. Hier wurde eine blühende jüdische Gemeinde zerstört – sie kehrt nicht zurück, sie kann nicht zurückkehren, denn es gibt sie nicht mehr. Diese Gemeinde Mönchsroth – sie steht für unzählige andere.
Im Ort steht noch die Synagoge, die vor 340 Jahren mitten in das Zentrum des Dorfes gebaut worden war: obwohl Juden nicht den Christen gleichberechtigt waren, hinderte dies die jüdische Gemeinde nicht daran, in der Mitte des Ortes eine stattliche Synagoge zu bauen. Mehr als 270 Jahre war sie Zentrum der jüdischen Gemeinde in gottesdienstlicher und gesellschaftlicher Hinsicht. Das Gebäude steht heute noch, es gehört Privatleuten, die es nach dem Krieg rechtmäßig erwarben.
270 Jahre lang waren Juden dort keine Fremden, sondern Nachbarn und Freunde. In diesen Ort nun schickte die Kirchenleitung im Jahr 1925 einen Pfarrer, der sich zu den „Deutschen Christen“ hielt, einen Vertreter der NS-Glaubensbewegung, einen antisemitischen Hetzer, der sich auch an der Gründung der Ortsgruppe der NSDAP beteiligte. Es kam zu scharfen Auseinandersetzungen mit der Gemeinde, weil diese sich von ihrem Pfarrer nicht alles bieten ließ. 1935 richtete er sich selbst. Es ist ein dunkles Kapitel in der Geschichte unserer Kirche, dass dieser Pfarrer die Rassenpolitik unterstützte und sich als deren Lautverstärker betätigte.
Die Nachfahren der Täter sind nicht die Täter. Die Nachfahren der Opfer sind nicht die Opfer.
Es gibt keine Kollektivschuld. Aber es gibt eine Kollektivscham und eine kollektive Verantwortung.
Deshalb habe ich in Mönchsroth als der Bischof der Kirche, zu der dieser Pfarrer gehört hat, den Nachfahren der Opfer bekannt, dass sich unsere Kirche in jenen Jahren vor dem Ende der jüdischen Gemeinde Mönchsroth an ihren Vorfahren mitschuldig gemacht hat.
Es war für mich bewegend, wie ich – in Anwesenheit von Nachfahren der damaligen jüdischen Bewohner, die heute in den USA leben - zusammen mit Arno Hamburger, dem Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, mit Psalmlesung und
Kaddischgebet einen Gedenkstein einweihte, der in der Dorfmitte auf diese Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Dorfbevölkerung hinweist.
Die großen Augenblicke können aber doch nicht darüber hinwegtäuschen, wie wenig selbstverständlich und oftmals schwierig unser Verhältnis ist.
Sind Juden Nachbarn in unseren Städten oder sind sie mehr: Freunde oder gar Geschwister?
Lassen Sie mich mit einer persönlichen Erfahrung beginnen: Zu den schwierigsten Erfahrungen meiner Bischofszeit gehört ein Besuch in einer Synagoge, der im Rahmen eines Dekanatsbesuchs stattfand. Nein, falsch: Es war natürlich nicht der Besuch, der schwierig war, sondern die Folgen dieses Besuchs.
Was war passiert? Ich habe mich während des Besuchs in Würzburg mit dem Vorsitzenden der dortigen Israelitischen Kultusgemeinde, Dr. Schuster, zu einem Gespräch getroffen. Während des Besuchs habe ich mein Amtskreuz sichtbar getragen. Danach fragte mich Dr. Schuster, ob ich in den Synagogenraum hineingehen wolle. Dies habe ich getan und dazu aus Höflichkeit und Respekt die Kippa aufgesetzt und das Amtskreuz weggesteckt, ist doch das Tragen des Amtskreuzes in einer Synagoge für einen Bischof nicht notwendig und schon gar kein öffentliches Bekenntnis. Auch sind mir die Erfahrungen, die ich als Propst von Jerusalem gemacht habe, sehr eindrücklich. Dort habe ich viele Juden getroffen, die gegen das Zeichen des Kreuzes eine große Abneigung hatten. Für sie sind in diesem Zeichen Hunderttausende umgebracht worden. Juden, deren Schicksal von der Shoa bestimmt ist, verbinden – da brauchen wir uns als Christen nichts vormachen – das Symbol des Kreuzes mit den durch Jahrhunderte erlittenen Leiden.
Für sie spielt es keine Rolle, wie wir dieses Zeichen deuten, sondern wie sie es empfinden. Aufgrund dieser Erwägungen habe ich mein Amtskreuz weggesteckt.
Was glauben Sie, welche Briefe ich damals erhalten habe: der Bischof hat unseren Herrn Jesus Christus verraten! Gerade gegenüber Juden sei es wichtig, das Kreuz zu tragen, das sei ein Nachgeben gegenüber dem Druck des Weltjudentums…
Viele der Briefe zeigten, dass die Schreiber noch immer von antisemitischen Vorurteilen befallen waren. Juden sind für manche unter uns nicht einmal Nachbarn, sondern nach wie vor Gegner.
Ich trage mein Amtskreuz gerne als Zeichen, dass mir dieses Amt von Jesus Christus aufgetragen ist und ich ihn als den Gekreuzigten und Auferstande¬nen zu bekennen und zu bezeugen habe, was ich gerne tue. So habe ich es bei dem Gespräch mit dem Synagogenvorstand ebenso gern getragen wie bei einem Fest in der Moschee.
Ich steckte mein Amtskreuz weg in dem innersten religiösen Raum der jüdischen Gemeinde. Mein Bekenntnis zu Jesus Christus nötigte mich gerade hier dazu, Respekt gegenüber Menschen zu üben, die mit diesem Kreuz Erinnerungen an Verfolgung und Diskriminierung verbinden, für die Christen verantwortlich waren,.
Ich habe nicht damit gerechnet, dass mein Handels aus Rücksicht und Höflich¬keit, christlichen Tugenden also, geschah, kritisiert werden könnte.
Ist das Verhältnis von Juden und Christen immer noch so schwierig? Verstehen sich manche noch immer als Gegner und nicht als Geschwister? Ist das wirklich noch aktuell? Ich fürchte: Ja.
Es ist noch nicht lange her, als ein Vikar in Nürnberg über Exodus 20,5 (Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen) sinngemäß predigte: hier hören wir den Gott der Rache.
Es ist noch nicht lange her, als in vielen Kirchen ein Gebet gesprochen wurde, in dem es hieß: "er wurde von seinem Volk verachtet und gequält und ans Kreuz genagelt."
Diese Beispiele zeigen mir: bis heute gibt Vorurteile von Christen gegenüber Juden.
II. Vorurteile
Sie rühren her von den Anfängen des Christentums. Christen mussten profilieren gegenüber den Juden, von denen sie ja sozu¬sagen abstammten. Deshalb hat man vor allem die Unterschiede betont und nicht die Gemeinsamkeiten.
Auch finden wir in der Bibel eine ganze Reihe von Passagen, die mit heutigen Augen betrachtet antisemitisch klingen. Beson¬ders im Johannesevangelium, wo Jesus zu den Juden sagt: „Warum versteht ihr denn meine Sprache nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnt! Ihr habt den Teufel zum Vater, und nach eures Vaters Gelüste wollt ihr tun. Der ist ein Mörder von Anfang an und steht nicht in der Wahrheit; denn die Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er Lügen redet, so spricht er aus dem Eigenen; denn er ist ein Lügner und der Vater der Lüge.“ (Joh 8, 43f.) Ähnliches gilt auch für die anderen Evangelien, die so gelesen werden können, als sei es möglich, alle Schuld am Tode Jesu den Juden in die Schuhe zu schieben.
Im Laufe der Jahrhunderte haben Christen aus diesen neutestamentlichen Passagen gefolgert, sie müssten ihren Herrn Jesus an den Juden rächen, Juden müssten zwangsbekehrt werden oder sterben. Gerade nach den Ereignissen des letzten Jahrhunderts sind viele Menschen, insbesondere viele Christen, sensibel geworden, was den Umgang mit Juden betrifft.
Aber dennoch ist das Denken vieler weiterhin von Vorurteilen bestimmt.
Warum? Es gibt wenig Erfahrung mit Juden! In Deutschland leben heute etwas über 100.000 Menschen Juden, nur etwas mehr als 0,1 % der Bevölkerung. Das macht deutlich: Nicht wenige unserer Mitbürger haben Vorurteile gegenüber Juden, weil sie keine kennen. (Dieses Schicksal teilen sie im Übrigen mit den Muslimen: Die größte Angst vor dem Islam haben Deutsche dort, wo kaum Migranten leben).
III. Umdenken
Nach 1945 kam es in den evangelischen Kirchen zu einem Umdenken, was das Verhältnis zum Judentum betrifft. Herausragend ist dabei der Beschluss der Rheinischen Synode im Jahr 1980. Seither beschäftigt viele (evangelische) Christen die Frage, ob es zwei Wege zum Heil gibt, einen für Juden, einen anderen für Christen?
Damit eng verbunden ist eine weitere Frage, an der sich immer wieder die Gemüter erhitzen: Ist Judenmission erlaubt, möglich, verboten? Und schließlich – darauf komme ich noch: Martin Luther und die Juden.
1997 war bayerische Landeskirche so weit, dass sie einen Aus¬schuss einsetzte, der sich mit dem Verhältnis zwischen Juden und Christen beschäftigte. Auf der Herbstsynode 1998 wurde dann eine grundlegende Erklärung verabschiedet, die folgendermaßen beginnt:
„Die Frage nach dem Verhältnis von Christen und Juden führt in die Mitte des christlichen Glaubens: der Glaube an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den wir Christen als den Vater Jesu Christi bekennen, verbindet Christen und Juden. Das Thema ist nicht nur von außen an die Kirche herangetragen, sondern stellt eine für Kirche und Theologie gleichermaßen zentrale Lebensfrage dar. Weil Jesus von Nazaret dem jüdischen Volk zugehörte und in dessen religiö¬sen Traditionen verwurzelt war, darum „sind Christen durch ihr Bekenntnis zu Jesus Christus in ein einzigartiges Verhältnis zu Juden und ihrem Glauben gebracht, das sich vom Verhältnis zu anderen Religionen unterscheidet.“
IV. Juden und Christen haben gemeinsame Wurzeln
Ich habe gelernt: Ich verstehe mehr von meinem Glauben, wenn ich den jüdischen Glauben besser kenne. Lange Zeit haben wir als Christen vergessen, dass Jesus Jude war, jüdisch gedacht und jüdisch geglaubt hat.
Ein Beispiel: die Pharisäer gelten bei Christen eher als negative Gestalten, weil die Evangelisten sie als die Gegner Jesu zeichnen. Lange Zeit haben wir nicht gemerkt, dass gerade sie die religiös Ernsthaften ihrer Zeit waren, was uns eigentlich Respekt abnötigen sollte.
Wir haben gemeinsame Wurzeln. Das Besondere in unserer Beziehung ist nicht die Differenz, sondern das Gemeinsame.
Wenn wir sagen: „der christliche Glaube hat Wurzeln im jüdischen Glauben“, stimmt dies nicht ganz. Richtig muss es heißen: „christlicher und jüdischer Glaube haben gemeinsame Wurzeln“. Seit Jesus Christus gehen wir getrennte Wege, aber wir glauben an denselben Gott, den Vater Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Jesus als Vater angerufen hat und den wir Christen auch als Vater Jesu Christi bekennen.
In Römer 9-11 geht der Apostel Paulus auf dieses Thema ein. Es ist für uns die wichtigste Stelle im Neuen Testament für unser Verhältnis zu den Juden. Und sie ist in dieser Diskussion auch die umstrittenste. Die für das evangelische Selbstverständnis so wich¬tige Lehre von der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben wird auch in diesen Kapiteln ausführlich behandelt. Aus ihr wird jedoch nicht die Verwerfung des Judentums ge¬folgert. Vielmehr wird die Rechtfertigungslehre mit der Treue Gottes zu seinem bleibend erwählten Volk Israel in Beziehung gesetzt.
Paulus gelangt in Römer 11 an das Ziel seiner Über¬legungen und adressiert diese besonders an Heiden¬christen, d.h. an jene, die keine jüdischen Wurzeln haben. Da dies heute für den überwiegenden Teil der Christen zutrifft, muss unser Verhältnis durch Römer 9-11 bestimmt sein. Mit Römer 9 11 wird deutlich, dass die christliche Kir¬che sich selbst ohne ihre jüdi¬schen Wurzeln nicht ver¬stehen kann. Paulus vergleicht die Christen, die vorher Juden waren, mit den Zweigen eines von der Wurzel her geheiligten Baumes, und die Christen, die vorher Heiden waren, mit in den Baum nachträglich aufgepfropften Zweigen
Er schärft den Heidenchristen ein: „Wenn aber nun einige von den Zweigen ausgebrochen wurden und du, der du ein wilder Ölzweig warst, in den Ölbaum eingepfropft worden bist und teil¬bekommen hast an der Wurzel und dem Saft des Ölbaums, so rühme dich nicht gegenüber den Zweigen. Rühmst du dich aber, so sollst du wissen, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich.“ (Röm 11, 17f.)
Schon aus diesem Grund ist für Christen die Begegnung mit dem Judentum wichtig. Wenn die jüdische Wurzel nicht berücksichtigt wird, führt dies zu einer verkürzten Sichtweise christlicher Identität. Der von Papst Johan¬nes Paul II bei seinem Besuch der römischen Synagoge (1986) geäußerten Ansicht müssen alle Christen zustimmen können: "Die jüdische Reli¬gion ist für uns nicht etwas ‚Äußerliches’, sondern gehört in gewisser Weise zum ‚Inneren’ unserer Religion. Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder."
Im Ölbaumgleichnis wird das Verhältnis zwischen Christen und Juden aus christlicher Perspektive bestimmt. Wir können nicht erwarten, dass Juden ohne weiteres dieser Sicht zustim¬men. Allerdings können Juden wahrnehmen, dass wir in Aufnahme von Römer 9-11ein neues Verhältnis zu unseren, „älteren“ Brüdern su¬chen, in dem Unterschiede nicht zu Gegensätzen wer¬den, sondern grundlegende Gemeinsamkeiten bestehen¬de Unterschiede „umgreifen“.
Das heißt konkret: „Jüdischer Glaube und christlicher Glaube leben aus einer gemein¬samen biblischen Wurzel. Juden und Christen bekennen sich zu dem einen Gott, dem Schöpfer und Erlöser. Juden und Christen verstehen sich beide als Volk Gottes. Juden und Christen sprechen ihren Glau¬ben in ihren Gottes¬diensten aus, in dem sich vielfältige Gemeinsamkeiten finden. Juden und Christen sind in ihrem Glauben bestimmt durch die Wechselbeziehungen zwischen Ge¬rechtigkeit und Liebe. Juden und Christen leben auch in der Trennung aus der gemein¬samen Geschichte Gottes mit seinem Volk, deren Vollendung sie erwarten.“ (Erklärung I.1)
Und so haben auch wir als Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern die klare Schlussfolgerung gezogen und von der bleibenden Verheißung für Israel als Gottesvolk gesprochen (Röm 11,1). Seine Erwählung wird nicht durch die Erwählung der Kirche aus Juden und Heiden aufgehoben. Damit ist manches im Verhältnis zwischen Christen und Juden zwar immer noch unklar, aber eines ist sicher: wir glauben nicht mehr, dass
Gottes Verheißungen auf das neue Israel übergegangen und für das alte Israel nicht mehr gültig seien. Damit ist unser Verhältnis zum Judentum immer ein besonderes.
Daraus folgt der Schluss: Antijudaismus steht innersten Wesen des christlichen Glaubens entgegen. Deshalb gehört es zu den ureigensten Aufgaben der Kirche, sich von jeglicher Judenfeindschaft loszusagen, ihr dort, wo sie sich regt, zu widerstehen und sich um ein Verhältnis zu Juden und zu jüdischer Religion zu bemühen, das von Respekt, Offenheit und Dialogbereitschaft getragen ist.
Diese Überlegungen haben mich dazu bewogen, das „Bündnis für Toleranz – gegen Rassismus und Antisemitismus“ ins Leben zu rufen. Dafür haben wir viele Verbündete gefunden: Verbände, Gewerkschaften, Staatsregierung und die Kirchen. Gemeinsam nehmen wir unsere Verantwortung wahr und setzen uns dafür ein, dass Juden in unserem Land diskriminiert nie wieder werden.
V. Christen können vom Judentum lernen
Wegen unserer gemeinsamen Wurzeln ist es gut, jüdisches Leben und Glauben im Blick zu behalten. Ich möchte dies am Beispiel von Sabbat und Sonntag zeigen:
Der christliche Sonntag gründet sich im 3. Gebot, „Du sollst den Feiertag heiligen!“
Wir Christen feiern nicht mehr wie die Juden am 7. Tag, sondern den 1. Tag der Woche: Weil wir an diesem Tag der Auferweckung Jesu gedenken.
Aber wir können, was die Bedeutung des Feiertags betrifft, viel von Juden lernen:
Zu den nachhaltigsten Erlebnissen jener sechs Jahre, in denen ich als Propst der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Jerusalem wirkte, gehört die Art und Weise, in der Juden den Sabbat feiern. Für uns Christen ist manches davon ungewohnt, manches verstehen wir auch nicht. Wer die Sabbatgebote streng einhält, arbeitet nicht, kocht nicht, bereitet keine Speisen vor, geht oder fährt nicht außer zur Synagoge. Gerade letzteres ist uns fremd, aber: Wenn die Sabbatruhe ein Vorgeschmack der Ewigkeit ist, dann relativiert sie die Hektik des Alltags, all das, was im alltäglichen Leben so wichtig daher kommt. Der Feiertag Gottes ist ein Geschenk an die Welt, zum Wohl der Menschen, nichts, was einschränkt, sondern die Reglements, des Alltags, für einen Tag in der Woche aufhebt.
In unserem Land ist der Sonntag in Gefahr. Einkaufen rund um die Uhr scheint das höchste Lebensgefühl für Menschen zu sein, die jegliches Gefühl dafür verloren haben, was dem Leben Qualität gibt. Wer heute sonntags einkaufen will, muss morgen sonntags arbeiten. Er wird ein Rädchen im Rechenspiel von Maschinenlauf- und Dienstleistungszeiten. Dann gibt es keinen gesellschaftlichen Rhythmus von Arbeit und Ruhe mehr. Alles löst sich auf in ewig gleiche Tage. Ohne Sonntage gibt es nur noch Werktage, gibt es nur noch Alltag. Die Erhaltung des Sonntags ist darum lebensnotwendig. Die jüdische Sabbat-Heiligung könnte uns helfen, dies zu verstehen.
VI. Eine schmerzliche Hypothek: Martin Luther und die Juden
Als lutherische verdanken wir Martin Luther viel. Und je älter ich werde, um so wichtiger werden mir seine theologischen Einsichten.
Wir alle kennen aber auch die entsetzlichen Äußerungen, die Martin Luther über Juden gemacht hat. Dies können wir bei unserem Thema nicht auslassen, schon deswegen nicht, weil sie für Juden kein „Schnee von gestern“ sind. Der Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde in Nürnberg hat es im Lutherjahr 1995 abgelehnt, zur feierlichen Eröffnung zu kommen. Der Nürnberger Dekanatsausschuss sah sich daraufhin veranlasst, einen Beschluss zu verabschieden, in dem er sich der Erklärung der Evangelical Lutheran Church of America anschloss. Darin heißt es:
„…wir, die wir seinen Namen …. tragen, (müssen) mit Schmerz auch Luthers antijüdische Schmähungen und die gewalttätigen Empfehlungen in seinen späteren Schriften gegen die Juden zur Kenntnis nehmen. Wie schon viele von Luthers eigenen Gefährten im 16. Jahrhundert weisen wir diese verletzenden Schmähungen zurück und drücken darüber hinaus unser tiefes und bleibendes Gefühl des Schmerzes über deren tragische Folgen für die nachkommenden Generationen aus. In Übereinstimmung mit dem Lutherischen Weltbund beklagen wir besonders die Verwendung von Luthers Aussagen durch moderne Antisemiten für ihre Lehre des Hasses gegen das Judentum oder gegen das jüdische Volk unserer Zeit.“
Dies hat unsere Kirche in der oben schon genannten Erklärung in folgender Weise aufgenommen:
„Es ist für die lutherische Glaubensgemeinschaft, die sich dem Werk und Erbe Martin Luthers verpflichtet weiß, unerlässlich, auch seine antijüdischen Äuße¬rungen wahrzunehmen, ihre theologische Funktion zu erkennen und ihre Wirkung zu bedenken. Sie hat sich von jedem Antijudaismus in lutherischer Theologie zu distanzieren. Hierbei müssen nicht nur seine Kampfschriften gegen die Juden, sondern alle Stellen im Blick sein, an denen Luther den Glauben der Juden pauschalisierend als Religion der Werkgerechtigkeit dem Evangelium entgegensetzt.“
Für viele allerdings ist eine derart sachliche und notwendige Kritik an Martin Luther immer noch Majestäts- oder besser gesagt: Heiligen-Beleidi¬gung. Aus diesem Grund haben wir in einem weiteren Abschnitt gefolgert:
„Sowohl Aussagen Martin Luthers als auch be¬stimmte Ausprägungen lutheri¬scher Theologie haben antijüdische Wirkungen hervorgerufen. Über die notwendige inhaltliche Distanzierung hinaus sind deren Ursachen, Motive und Wirkungsgeschichte zu erforschen und für eine künftige lutherische Theologie im Blick auf das christlich – jüdische Gespräch zu überdenken und zu kritisie¬ren.
Entgegen der oft eingeübten Praxis muss jede pauschalisierende Gegenüber¬stellung von Judentum (auch jüdischen Gruppen, wie z. B. Pharisäer) oder wesentlichen Inhalten der jüdischen Religion (z.B. Gesetz) zu der christlichen Botschaft aufgegeben werden und einer sorgfältig differenzierenden Sicht¬weise weichen. Die lutherische Kirche muss es sich zur Aufgabe machen, religiöse Intoleranz innerhalb der Kirche wie auch in der Gesellschaft zu bekämpfen.“
Weil Martin Luther für uns als evangelische Christen von hoher Bedeutung ist, haben wir eine besondere Verantwortung, uns weiterhin mit dem Thema „Christen und Juden“ zu beschäftigen.
VII. Zu guter Letzt: bleibende Unterschiede
Wir stellen fest: es gibt viele Zusammenhänge, Übereinstimmungen, Parallelen, es gibt auch Unterschiede, die es als solche wahrzu¬nehmen gilt.
Der wichtigste Unterschied liegt sicherlich in der Beantwortung der Messiasfrage.
Martin Buber hat dies einmal sehr schön formuliert: Er erzählte von einem Seminar für Juden und Christen, an dem er teilnahm. Dort sagte er: „Wir haben doch viel gemeinsam. Ihr Christen glaubt, dass der Messias schon einmal hier war, wieder weggegangen ist, und dass er wiederkommen wird. Wir Juden glauben, dass er kommen wird, aber dass er noch nicht hier war. Mein Vorschlag: lasst uns doch zusammen auf ihn warten. Und wenn er kommt, können wir ihn ja selber fragen, ob er schon einmal hier gewesen ist. – Und ich werde in der Nähe stehen und ihm ins Ohr flüstern: Sag nichts!“
Das Wort Bubers führt sehr humorvoll aus, dass dieser Unterschied – gerade, wenn er ernst genommen wird – im Glauben zusammenführen kann. Ich meine, dass wir als Christen die Beantwortung der Frage Gott und dem Hl Geist selbst überlassen dürfen und einstweilen fröhlich unseren Glauben an Gott, den Vater Jesu Christi bekennen und gleichzeitig das Bekenntnis der Juden zu dem Gott ernst nehmen dürfen, den auch Jesus als seinen Vater bekannt hat.
Ich schließe mit dem Segenswunsch der Erklärung unserer Kirche: „Gott, den wir Christen als den Vater unseres Herrn Jesus Christus bekennen, der Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs, segne alle unsere Bemühungen um ein besseres Verhältnis zwischen Christen und Juden“.