Sehr geehrte Damen und Herren,
als ich vor einigen Monaten die Einladung erhielt, an dem Friedenstreffen der Gemeinschaft Sant’Egidio in München teilzunehmen und auf einem Po-dium Rede und Antwort zu stehen, habe selbstverständlich zugesagt. Es gibt wenige Einladungen, die ich lieber annehme. Eine Begegnung unter dem Dach von Sant’Egidio ist – bei aller habituellen Distanz – eine Begegnung mit Freunden: Nicht nur ich habe in den vergangenen Jahren immer wieder er-fahren, dass das Wort „Freunde“ hat in diesem Kreis noch den vertrauten Klang von Treue und gemeinsamer Freude (gaudium) und Hoffnung (spes), aber auch von Trauer (luctus) und Angst (angor) - um die ersten Worte der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Gaudium et Spes vollständig zu zitieren.
Wobei ich mit der Erwähnung von „Gaudium et Spes“ mitten in der Ge-schichte von Sant’Egidio wäre – und mit dem Wort „Freunde“ auf einem Umweg in dem Thema, das mir gestellt wurde.
Denn wenn ich eben das Wort Freunde erwähnte, so ist der Umgang damit in den vergangenen Jahren in einer Weise leichtfertig, ja missbräuchlich ge-worden, die wohl nicht nur ich vor kurzem noch für unmöglich erklärt hätte. Wenn nicht alles täuscht, dann erleben wir seit einigen Jahren die gewaltigs-te Zunahme von „Freundschaften“, die die Menschheit jemals erlebt hat. Mehr noch: nicht allein die Zahl der Freundschaften, die Menschen nach eigenem Bekunden untereinander pflegen, hat in den vergangenen Jahren explosionsartig zugenommen. Auch war es noch niemals in der Geschichte der Menschheit so einfach, Zeitgenossen als Freund zu gewinnen und selbst zum Freund eines Zeitgenossen zu werden.
Sie wissen schon, worauf ich hinauswill, auf die Facebook-Welt und das weltumspannende Netz sogenannter Freundschaften, das sich dank einer genialen Idee eines jungen Amerikaners binnen weniger Jahre um die Welt gelegt hat.
Doch sollten Sie nun erwarten, ich könnte Ihnen als Führer in dieser Welt dienen, dann muss ich Sie rundheraus enttäuschen. Für mich ist Facebook eine terra incognita. Das wenige, was ich darüber weiß, habe ich meinen Kindern abgeschaut, etwa einem meiner Söhne, der jüngst ganz stolz die Route einer ausgedehnten Radtour auf Facebook „postete“ und daraufhin von einem Mädchen („Freundin“) auf Facebook gefragt wurde, warum er nicht in ihrem Ort und bei ihr angehalten habe. Er musste ihr daraufhin er-klären, dass sie einen Besuch in Begleitung des Vaters wohl ziemlich „un-cool“ gefunden hätte.
Doch Spaß beiseite. Weder „bin ich“ bei Facebook – wie es im Deutschen heißt -, noch habe ich einen „Twitter“-Account oder verbringe auch nur ei-nen Bruchteil meiner Freizeit in einem internetbasierten sozialen Netz. Wen Sie hier vor sich sehen, ist ein Mann ohne „friends“ und „followers“, nach den Maßstäben des Zeitgeistes fast ein Autist. Und ausgerechnet ich wurde ausersehen, mir darüber Gedanken zu machen, ob die neuen Formen der internetgestützten Kommunikation das Gespräch zwischen den Religionen zu fördern vermögen oder nicht.
Meine erste Reaktion auf dieses Thema war: Wer kommt denn um Himmels willen auf diese Idee? Ich weiß es bis heute nicht. Aber bis heute weiß ich auch nicht, wie soziale Netze und die in ihnen stattfindende Interaktionen den Dialog der Religionen beförderten können.
Denn das, was ich glaube von den sozialen Netzwerken verstanden zu ha-ben, würde ich nicht einmal unter den Begriff Kommunikation fassen, eben-so wenig unter den Begriff Gespräch oder gar Dialog.
Sicher, Twitter etwa hat eine enorm wichtige soziale, ja politische Funktion, weil es jedem erlaubt, Informationen in Echtzeit und ohne Zensur weiter-zugeben, ebenso wie es Mobiltelefone mit Bildern und Videosequenzen tun können. So waren es Fahrgäste der Londoner Underground, die kurz nach dem Terroranschlag in der britischen Hauptstadt am 7. Juli 2005 erste Bil-der ins Netz stellten. Der Aufstand in Iran nach der gefälschten Präsiden-tenwahl am 12. Juni 2009 war die eigentliche Geburtsstunde der Twitter-Nachrichten: Die ganze Welt konnte daran teilhaben, wie sich junge Iraner mit dem Mut der Verzweiflung gegen das Regime der Mullahs und der Pas-daran zur Wehr setzten. Und Facebook, SMS sowie das Blackberry-System haben inzwischen dank einer immer größeren Zahl internetfähiger Smartphones ein Organisationspotential, das alle bisherigen Möglichkeiten in den Schatten stellt.
Die Wirkungen dieser Techniken auf Gesellschaften und Staaten sind jedoch extrem komplex. Unbestritten ist, dass internetbasierte Netze den Trend je-der modernen, von Individualismus geprägten Gesellschaften verstärken, immer mehr Gruppen und den dadurch konstituierten sozialen Räumen gleichzeitig anzugehören. Gegen diese Entwicklung ist per se nichts einzu-wenden. Dass jemand in ein Dorf und damit in eine Religion hineingeborene wurde und diese Herkunft nur um den Preis sozialer Ächtung verleugnen konnte, war das Ideal des Evangeliums nicht. So betrachtet liegt in der ent-grenzenden Wirkung internetbasierter sozialer Netze nicht nur ein subjekti-ver, sondern auch ein kultureller Mehrwert.
Anders verhält es sich mit dem politischen Mehrwert internetbasierter sozia-ler Netze. Betrachte ich die „Botschaften“ von Twitter oder anderen Plattfor-men mit den Kriterien eines Informationsbrokers, so muss ich apriori zwei Vorbehalte anbringen: Der Wahrheitsgehalt der vermeintlichen Nachrichten ist in der Regel nicht zu überprüfen, ihre Repräsentativität nicht zu ermes-sen. Ob in Iran oder Ägypten, in Tunesien oder Libyen: Was ist Information, was Desinformation? Ohne eine Plausibilitätsprüfung durch Personen, de-nen der Absender zweifelsfrei bekannt ist, und ohne Abgleich mit anderen Quellen ist der Wahrheitsgehalt von Twitter-Botschaften nicht zu bestim-men.
Sicher, für alle Diktaturen und alle repressiven Regimes sind die sozialen Netze eine neue Form und nur schwer zu bekämpfende Form der Bedro-hung. Und Repression ist in der arabisch-islamischen Welt weiter verbreitet als in allen anderen Regionen der Welt. Für eine hoffnungs- und illusionslos gewordene Jugend im Maghreb oder in Syrien sind die neuen Möglichkeiten, Proteste zu organisieren und ihre Stimme gegen Armut und gesellschaftliche Perspektivlosigkeit, die Chance ihres Lebens. Viele nutzen sie, oft unter Ein-satz ihres Lebens
Doch auch die Gegenseite schläft nicht. In China und vielen anderen Län-dern ist die Kontrolle des Internet bis hin zu dessen Abschaltung noch im-mer die schärfste Waffe zur Unterdrückung von Meinungsfreiheit und sozia-lem Protest. Doch wie lange noch? Die amerikanische Regierung lässt längst an Formen des Internets arbeiten, die im Konfliktfall nicht der Zensur unter-liegen.
Trotz allem erschließt es sich mir nicht, welche Perspektiven mit all diesen ungemein spannenden, ja elektrisierenden Vorgängen für das Gespräch der Religionen einhergehen sollen. Für das Feld der Politik lässt sich immerhin so viel sagen, dass die entgrenzende Funktion internetbasierter sozialer Net-ze auch dort wirksam wird, wo die Religionszugehörigkeit in Gesellschaft und Politik diskriminierenden Charakter hat. Nach allem, was man sehen konnte, fanden sich auf dem Tahhir-Platz in Kairo Kopten und fromme Mus-lime, säkulare Ägypter und islamistische Aktivisten zusammen. Die inter-netbasierten sozialen Netze dienten als Katalysator, um jahrhundertealte Gräben zu überwinden. Und wie es scheint, ist der gemeinsame Protest auch in religionskultureller Hinsicht nicht folgenlos geblieben. Sollten die Berichte zutreffen, dass Muslimbrüder mit Kopten gemeinsam für Religionsfreiheit in einem neuen Ägypten eintreten wollen, dann ginge von diesem wohl wich-tigsten Land in der arabischen Welt eine Botschaft aus, die bis in die Türkei hinein Wirkung entfalten könnte.
Ähnlich vielschichtig wie in Ägypten zusammengesetzt war und ist die Rebel-lenbewegung in Libyen. In Syrien sieht es indes mutmaßlich anders aus. Wie im Irak Saddam Husseins, so scheinen die meisten Angehörigen der christli-chen Minderheiten eine säkulare Diktatur einer muslimisch geprägten De-mokratie mit zweifelhaftem Schutz von Minderheiten vorzuziehen. Den Christen ist Syrien ist diese Einstellung vor dem Hintergrund des Terrors gegen die Christen im Irak nicht zu verdenken.
Doch zurück zu dem Phänomen internetgestützter sozialer Netze. Wie nahe-zu alles im Leben haben auch sie ihre Schattenseiten. Via Smartphone Blackberry haben sich nicht nur arabische Freiheitskämpfer organisiert, sondern auch die Plünderer, die London und andere Städte in England im Sommer in Furcht und Schrecken versetzten. In Deutschland schlug wenig später eine andere Seite von Facebook Wellen: Im Frühjahr 2010 lernte ein damals 39 Jahre CDU-Politiker über Facebook ein 15 Jahre altes Mädchen kennen. Eines der ersten Wochenenden nach deren 16. Geburtstag ver-brachten Mann und Mädchen gemeinsam in einem Hotel. Bald darauf wurde der Mann Spitzenkandidat seiner Partei für die Landtagswahl in Schleswig-Holstein. Der Mann trennte sich von dem Mädchen, ein Jahr später trennte sich die Partei von ihrem Spitzenkandidaten. Aus den Vereinigten Staaten schließlich wird unter dem Eindruck von vielen Ehescheidungen in einer Pfingstgemeinde berichtet, dass der Pastor es den Männern verboten hat, auf Facebook aktiv zu werden. Allzu oft war es via Facebook zu folgenträchtigen Wiederbegegnungen mit der seit Jahrzehnten verschollenen Jugendliebe ge-kommen.
Kurz: das dissoziative Potential der prima facie assoziativen sozialen Netze sollte nicht unterschätzt werden. Und wie man am Tag nicht nur höchstens drei, sondern locker dreißig oder auch dreihundert Freundschaften pflegen kann, erschließt sich mir bis heute nicht.
Doch zurück zu der dissoziativen Kehrseite des vermeintlich nur assoziati-ven Netze. Fand vor der Entstehung des Internet Kommunikation über Glaube, Kirche oder Religion im wesentlichen in Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen und Rundfunk statt, so hat sich mittlerweile ein beträchtlicher Teil auch dieser Kommunikation in das Internet verlagert. Schrittmacher dieser Entwicklung waren die privaten Fernseh- und Rundfunkstationen, die zunächst in den Vereinigen Staaten entstanden und mittlerweile auch in Eu-ropa zu finden sind.
Nun hat niemand das Recht, religiösen Organisationen diese Form der Selbstorganisation zu verweigern. Aber es ist schon bemerkenswert, dass sich gerade Gruppen aus dem fundamentalistischen oder auch rechtsnatio-nal bis rechtextremen Spektrum die neuen Techniken zunutze gemacht ha-ben. In Europa muss man nur an das von einem polnischen Redemptoristen gegründete Radio Marija erinnern, um deutlich zu machen, dass Geistliche der Kategorie „Hassprediger“ keineswegs nur in Moscheen anzutreffen sind.
Doch Kommunikation im Sinn von Verständigung über unterschiedliche Zie-le und Mittel und Wege, diese zu erreichen, ist ebenso wenig der Sinn von Einrichtungen die Radio Marija oder „kreuz.net“ wie die Förderung der Tole-ranz. Denn viele elektronische Medien und das Internet sind in meinen Au-gen kein Äquivalent einer pluralen, aber in wesentlichen Fragen regulierten Medienwelt. Gerade Rundfunkstationen wie Radio Marija oder kreuz.net samt der dort angesiedelten Blogosphäre haben das Potential, die „klassi-sche“ Medienwelt und mit dieser eine der Grundlagen einer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft insgesamt zu zerstören.
Denn elektronische Medien, vor allem aber das Internet unterliegen eben nicht der Kontrolle durch die Gesellschaft, etwa durch andere Medien, und nur selten durch die Gerichte. Informationen können nicht oder nur mit großer Verzögerung auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft werden, Argu-mente nicht im Widerstreit der Meinungen auf ihre Stichhaltigkeit. Das In-ternet leistet das Gegenteil. Es bietet jedem die Möglichkeit, ohne Kontrolle Falsches für Wahr auszugeben und jenseits der Grenzen von Meinungs- oder auch Kunstfreiheit in einem rechtlich kaum regulierten Raum zu agieren.
Die Folgen für die Demokratie hat jüngst ein angesehener ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht in meiner Zeitung so beschrieben:
„Das Internet ermöglicht zwar einerseits eine Erweiterung individueller Kommunikationschancen, es zerlegt aber andererseits Öffentlichkeit als ge-meinschaftliche Informationssphäre in eine unüberschaubare Vielfalt per-sönlicher Erlebniswelten. Der geistige Gesamtzusammenhang, der ein Volk zu einem solidarischen Ganzen verbindet und es dadurch über die Formali-tät einer gemeinsamen Staatsangehörigkeit hinaus zum Träger der Staats-gewalt qualifiziert, wird so tendenziell aufgelöst. Demokratie als Selbstbe-stimmung des Volkes setzt dieses als eine Einheit voraus, die durch einen Mindestbestand an Traditionen und Überzeugungen zusammengehalten wird, die als allgemein verbindlich angesehen werden. Erst auf der Grundla-ge eines gemeinsamen Erfahrungshorizonts werden politische Kommunikati-on und ein daraus hervorgehender, in Ablauf und Ergebnis grundsätzlich akzeptierter Prozess politischer Willensbildung möglich.“
Für die Religion gilt meiner Befund analog: Im Internet bilden sich eine un-überschaubare Vielzahl persönlicher religiöser Erlebniswelten ab, vorzugs-weise jene, deren Protagonisten glauben, von einer Mehrheit unterdrückt zu werden. Was dabei herauskommt, können Sie sich etwa auf „kreuz.net“ je-den Tag vor Augen führen - wenn Sie es wollen: Kaum ein Beitrag, der nicht von Hass und Verachtung, von Verleumdungen und Lügen trieft – bis in die Sprache hinein. Diese ähnelt fatal der des „Stürmer“, der Zeitung der NSDAP, in der das deutsche Volk jeden Tag mit dem Satz „Die Juden sind unser Unglück“ auf den Holocaust eingestimmt wurde.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freunde, wenn ich schon zur der Lösung der mir gestellten Aufgabe nur wenig beitragen konnte, so hof-fentlich doch das, dass ich Sie vielleicht ein wenig sensibilisiert habe für die Abgründe, an die uns die Revolution der Kommunikation schon geführt hat. Ob es noch unbekannte, noch bedrohlichere Abgründe gibt, vermag ich nicht zu sagen. Auch nicht, ob es gelingen wird, das Internet als weitgehend rechtsfreien Raum einzuhegen oder auch der begrifflichen Auflösung unserer von Freundschaft und Feindschaft, von Dialog und Streit geprägten Lebens-welt in eine surreale Welt unendlicher vieler Freundschaften und eines end-losen Stroms seelenloser Akronymen wie HDGDL oder LOL Einhalt zu gebie-ten.
Aber vielleicht ist der Umstand, dass die Gemeinschaft von Sant’Egidio es sich nach wie vor nicht nehmen lässt, reale Menschen an realen Orten zu-sammenzuführen und Auge und Auge miteinander sprechen und gemeinsam beten zu lassen, ein Zeichen der Hoffnung (spes). Anlass zur Freude (gaudi-um) ist es allemal.