12 Septembre 2017 09:00 | Petrikirche

Rede von Jürgen Johannesdotter



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Jürgen Johannesdotter

Évêque luthérien, Allemagne
 biographie
Meine Damen und Herren!
 
500 Jahre nach der Reformation treffen wir uns  in Münster und Osnabrück, jenen beiden Städten, in denen nach dem 30jährigen Krieg von 1618 – 1648, einem furchtbaren Krieg, Friede geschlossen wurde. In dieser Umgebung bin ich 1943 geboren worden und  zur Schule gegangen. In Münster habe ich 1964 das Studium der Soziologie begonnen. Da dieser furchtbare Krieg auch  mit der Konfessionsbildung zu tun hatte, die nach der Reformation Deutschland und Europa spaltete, will ich die biographischen Daten noch etwas genauer beschreiben. Geboren und aufgewachsen bin  ich in einer weit überwiegend evangelischen Kleinstadt, in der erst im Gefolge des II. Weltkriegs durch Flüchtlinge aus Ostdeutschland eine katholische Gemeinde entstand. Meine Schulzeit habe ich dagegen in einer überwiegend katholischen Kleinstadt zwischen Münster und Osnabrück verbracht; in einem ehemaligen Benediktinerkloster und Sitz der Bischöfe von Osnabrück. Hier errichtete das Land Niedersachsen nach dem Krieg ein  Gymnasium mit Internat für Flüchtlingskinder und begabte Kinder aus armen Familien.
 
Das Nebeneinander von katholischen und evangelischen Dörfern und Städten  hat die ersten 20 Jahre meines Lebens stark geprägt. An jeweils einem Ort waren die evangelischen und  die katholischen Christen in der Diaspora bzw. in der Mehrheit. Nur im Internat lebten wir als Schülerinnen und Schüler miteinander und lernten einander  kennen. Diese Trennung der Konfessionen innerhalb einer Region war eine Folge des Westfälischen Friedens von Münster und Osnabrück. 1624 hatte es nämlich eine Visitation der Diözese gegeben mit dem Ziel, den tatsächlichen Konfessionsstand festzustellen. Die Protokolle dieser Visitation des Generalvikars waren die Grundlage für die Zuordnung zur jeweiligen Konfession am Ende des 30jährigen Krieges. Vor diesem Hintergrund ist bei mir  die Neugier auf das Verhältnis der beiden Konfessionen gewachsen. Die Frage nach der Einheit der Christen bewegte mich, bevor ich bei meiner Suche nach Sinn und Zukunft und Friede mit dem Theologiestudium begann.
 
Im Jahr 2001, in dem ich als Bischof einer lutherischen Landeskirche eingeführt wurde,  lernte ich in Rom die Gemeinschaft Sant‘ Egidio kennen. Von Martin Luther habe ich gelernt, die Heilige Schrift, das Evangelium von Jesus Christus so zu lesen und anzueignen, dass daraus etwas für das tägliche Leben entsteht. Es komme darauf an, den Glauben ins Leben zu ziehen – mit Konsequenzen also für das Leben. Die Bibel lesen und die Politiker auffordern, ein öffentliches Schulsystem aufzubauen, zugänglich für alle Menschen. Die Bibel lesen und die Politiker auffordern, gegen Not und Elend Sperren einzurichten und für eine öffentliche Fürsorge einzutreten. Die Bibel lesen und gegen Wucherzinsen in der Wirtschaft argumentieren. Die Bibel lesen – und die Kirche auffordern, das Ihre zu tun, nicht Teil eines ausbeuterischen Systems zu sein. 
 
In der Sprache der Soziologie hieß das in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts  „die Option  für die Armen“ ergreifen. 
 
All dies haben viele Menschen durch die Jahrhunderte gefordert, innerhalb und außerhalb der Kirchen, vor und nach der Reformation. Sie haben es gefordert und zu leben versucht. Sie haben Anstöße dazu in der Bibel gefunden und sich auf den Weg gemacht. Sind erfolgreich gewesen und sind gescheitert. Sind glaubwürdig geworden  und haben enttäuscht. Nötig haben wir solche Menschen heute wie zu allen Zeiten. 
 
Was hat sich geändert in den 500 Jahren seit der Reformation? Skeptiker werden fragen: Hat sich denn überhaupt etwas geändert? Leben wir nicht in einer sehr gefährdeten Phase der Menschheit? Kernforscher sehen seit Januar 2017 die Weltlage fast so kurz vor einem Atomkrieg wie 1953, als sowohl die Sowjetunion als auch die USA Wasserstoffbomben in der Erdatmosphäre testeten. Die Leugnung der Erderwärmung und ihrer Konsequenzen sowie die Gewalt und der Krieg im Nahen Osten und großen Teilen Afrikas verdunkeln unseren Horizont.
 
Wo ist Hoffnung? „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. In schwierigen Zeiten wie unseren ist dieser Vers aus Friedrich Hölderlins Gedicht „Patmos“ nicht so einfach ersichtlich. Aber er gilt für alle, die trotz der sie umgebenden Gewalt und Verzweiflung an den Gott des Lebens glauben und Gottes Ruf und Auftrag für sie vernehmen. Wo und wann auch immer wir sie treffen und uns von ihnen motivieren lassen, werden wir das Licht der Hoffnung erkennen, das uns den Weg zum Leben,  zu Gerechtigkeit und Frieden trotz aller Hindernisse zeigt. Ja, es gibt Anzeichen der Hoffnung, auch und gerade im Miteinander der Kirchen, der großen und der kleinen. Wir haben voneinander gelernt und wir sind dabei, miteinander zu lernen von der Quelle unseres Glaubens.
 
Das Bischofskreuz, das ich trage und das eine Kopie des Originals ist, das mein Nachfolger als Bischof der Ev.-Luth. Landeskirche Schaumburg – Lippe trägt, wurde zum 400jährigen Jubiläum der Reformation am 31. Oktober 1917 vom Fürsten von Schaumburg – Lippe gestiftet. Auf der Rückseite steht das Datum und  als Ergänzung „Im Felde“; das heißt „im Krieg“. Wie oft wurden diese Jubiläen „im Krieg“ gefeiert, wo es nichts zu feiern gab. Dieses 500jährige Jubiläum feiern wir nicht mehr in Abwehr der anderen Konfessionen, gegen sie, um uns als die bessere, die glaubwürdigere Konfession darzustellen. Wir begehen dieses Jubiläum miteinander – in Dankbarkeit, aber auch im Schmerz über die Spaltung der Kirche. Es war in meiner Erinnerung zuerst mein Nachbar auf diesem Podium, Walter Kardinal  Kasper, der 2003 bei der 10. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes (LWB) im kanadischen Winnipeg (vor 14 Jahren!) in seinem Grußwort uns lutherische Delegierte mahnte, aus diesem Jubiläum ein gemeinsames ökumenisches Gedenken  zu machen. Das Thema dieser 10. Vollversammlung lautete übrigens  „Heilung der Welt“.
 
Gott sei Dank ist das Jubiläum 2017 ein „Christus – Fest“ geworden. Christus trennt uns nicht, er ist verbindet uns, er ist der Grund unserer Verbundenheit und der Grund, dass unsere Geschichte der getrennten Wege und der Spaltungen geheilt werden kann. „Healing of memories“ – auf diesem schmerzhaften und verheißungsvollen Weg sind wir ein großes Stück weitergekommen. Gott sei Dank! Wir haben gelernt, aufeinander zu hören, unsere Geschichten und unsere Begegnungen neu zu hören und neu zu lesen, ja die das Wort Gottes miteinander zu lesen und zu hören als eine Antwort auf die Nöte, die zum Himmel schreienden Nöte unserer Zeit. "500 Jahre Spaltung sind genug“ haben viele, vor allem junge Menschen im vorigen Jahr beim großen Treffen der Bewegung „Miteinander für Europa“ in München gerufen und gemahnt. Papst Franziskus hat ebenso wie Bartolomäus I in einem Grußwort ermutigt, diesen Weg weiter zu gehen. Viele Christen, die auf eine klare prophetische Stimme der Kirche warteten, haben das Apostolische Schreiben „Evangelii Gaudium“ und die Enzyklika „Laudato Si“ von Papst Franziskus begrüßt. Als lutherische Christen erinnern wir uns mit Dankbarkeit an das gemeinsame Gebet   am Reformationstag 2016 zwischen Papst Franziskus und dem Lutherischen Weltbund in Lund, Schweden.
 
Wenn es eine ökumenische Chance auf ermutigende Schritte auf unserem Weg zur Einheit in diesem 500. Jubiläumsjahr der Reformation gibt, denke ich an diesen Gottesdienst in Lund, aber auch an den gemeinsamen Gottesdienst der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Katholischen Deutschen Bischofskonferenz in Hildesheim und ähnliche Gottesdienste in verschiedenen Ländern mit dem gemeinsamen Schuldbekenntnis als wichtigem Schritt in Richtung Heilung. Das Heilen von Erinnerungen ist eine wichtige Vorbedingung für die sichtbare Einheit der Kirche, die den bilateralen theologischen Dialog und die aktive Zusammenarbeit bei drängenden Fragen ergänzen muss.
 
Mit Dankbarkeit erinnere ich mich an die Worte, die Sie, Herr Kardinal, im vorigen Jahr bei dem Kongress „Miteinander für Europa“ in München gesagt haben: „“Die Ökumene ist ein Durchgang des Heiligen Geistes durch die Kirche. Auf ihn ist Verlass. Er hat die ökumenische Bewegung angestiftet; er wird sie auch zu Ende führen. Einheit in versöhnter Verschiedenheit ist möglich. Sagt den Experten der Trennung, die Vorbehalte haben: Wir sind Experten der Einheit. Wir haben erfahren: es ist heute schon mehr möglich als ihr denkt!“ Und dann haben Sie die neuen Aufgaben beschrieben, die sich uns – und zwar uns Christen gemeinsam – stellen: „Wir sollen denen, die zu uns kommen, die Attraktivität des Christentums vorleben. Praktisch zeigen: Christ-sein ist eine gute Sache. Das können wir als Christen nur gemeinsam, wenn wir auch die Gräben zwischen uns Christen überwinden.“ Und schließlich: „Nicht Bedenkenträger, Hoffnungsträger sollen wir sein. Jesus Christus ist mitten unter uns; er geht uns voran. Sein Geist ist mit uns. Nicht Angst, Hoffnung ist angesagt!“
 
Das war eine Mut machende  Ansage für die vielen jungen Leute, die mit Ernst Christ sein wollen und darum den Glauben auch in ihre Alltagserfahrung hinein ziehen möchten. Der Grund dieses Glaubens ist öfter als wir zumeist vermuten Jesus Christus selbst, das Mensch gewordene Wort Gottes. Diese neue Ernsthaftigkeit über die Grenzen der Kirchen hinweg ist angestoßen worden durch die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigung am 31. Oktober 1999 in Augsburg. Danach hat Chiara Lubich gesagt: „Die Partitur zu dieser Erklärung ist im Himmel geschrieben worden“. Mit ihr haben viele Gemeinschaften sich entschlossen: Wir wollen diesen Meilenstein des Miteinanders nicht folgenlos dahin gehen lassen. So entstand diese Bewegung „Miteinander für Europa“. Dass in genau jenen Tagen des Jahres 2016, als der große Kongress in München stattfand, in einem Land Europas der „Brexit“ beschlossen wurde, macht deutlich, dass „MITEINANDER“ mehr denn je angesagt und erforderlich ist.
 
Ein solches „Miteinander“ aber trägt nicht ohne eine wahre, tragfähige Grundlage. Der Apostel Paulus sagt (1. Korinther 2, Vers 11): „Einen andern Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ Dieser Satz steht über dem Reformationsaltar in der Stadtkirche St. Marien in Wittenberg, den Lukas Cranach gemalt hat. Die Bilder des Altars zeigen, wie dieser Grund für Menschen zum festen Lebensfundament werden kann. Jesus Christus kommt in der Taufe, im Abendmahl, bei der Beichte uns nahe. Er wird im Evangelium lebendig, dass der Gemeinde gepredigt wird. In der Mitte ist Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene. Auf dem Boden dieses Evangeliums sind in 2000 Jahren Christentum viele unterschiedliche Pflanzen  gewachsen. Dass sie alle Pflanzen auf dem Ackerboden Gottes waren, konnten die Christen sich über viele Jahrhunderte nicht eingestehen. Es wurde vergessen, dass sie alle aus einer Quelle, dem Evangelium,  leben. Stattdessen bekämpften sie sich gegenseitig.
 
Dabei ging es Martin Luther ja nicht um eine neue Kirche, sondern um die Entdeckung, die ihn beim Studium des Römerbriefes förmlich überfiel: „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ Es ging um die Gerechtigkeit vor Gott, die sich allein der Gnade Gottes verdankt. Dass der biblische Text für jeden Menschen solche Erleuchtungen bereithält, war Luthers Überzeugung. Deshalb lag ihm das Dolmetschen der Bibel so sehr  am Herzen. Beinahe 25 Jahre lang widmete er sich wieder und wieder dieser Aufgabe.
 
In diesem Gedenkjahr dürfen wir uns dankbar an den Anfang erinnern, den Thesenanschlag vom 31. Oktober 1517, der ja nichts anderes will als an einen anderen Anfang zu erinnern, für den Martin Luther seine Kirche damals und uns heute sensibel, wach und aufmerksam machen wollte. Dieser kommt in besonders schöner Weise in der These 62 seiner 95 Thesen zum Ausdruck: „Der wahre Schatz der Kirche ist das Allerheiligste Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes.“ („The True Treasure of the Church Is  The Most Holy Gospel of  the Glory and Grace of God.“)
 
Diesem Schatz, dem Evangelium, auf der Spur zu bleiben, kann nur heißen, ihm miteinander auf der Spur zu bleiben – in dieser Zeit, die uns so viele Herausforderungen und Aufgaben  geradezu vor die Füße legt, dass wir gut daran tun, auch die 1. These in Erinnerung zu rufen, dass das Leben der Christen von der Buße, der Umkehr, bestimmt sein soll und wird. 
 
Da ich im Ruhestand an zwei Orten lebe, will ich meinen Beitrag mit Erfahrungen der zwei Orte beschließen. In Bückeburg wohne ich am Zaun der Heeresflieger der Bundeswehr. Ein   5 Meter hoher Zaun liegt zwischen den Grundstücken. Manches Mal werde ich frühmorgens wach von den Rufen auf dem Exerzierplatz: „Stillgestanden! Kehrt um! Marsch!“ und denke dann als erstes: Das ist Buße und Umkehr.
 
Mein zweiter Standort, besser Wohnort ist die Insel Norderney. Die Insel ist umgeben von der Nordsee, also Salzwasser. Aber unter der Insel gibt es eine Süßwasserblase, deren Wasser sich nicht vermischt mit dem Salzwasser. Was für ein Wunder! Könnten wir Christen nicht diese „Süßwasserblase“ für unsere am Wassermangel und am verdorbenen Wasser leidende Welt sein? Die örtliche Feuerwehr hat mir bei einem Kameradschaftsabend einen Brunnen im Garten gebohrt. Seitdem gedeiht vieles darin, was ich mir sonst mit teurem Leitungswasser nicht leisten könnte. Man muss nur wissen, wo man anbohren kann. Martin Luther hat uns diesen Freundschaftsdienst getan. Dies danken wir ihm auch heute noch – und machen uns  auf den Weg – nicht als Bedenkenträger, sondern als Hoffnungsträger.